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Auf der Jagd nach fliegenden Fischen
Das Wetter ist perfekt. Ein leichter Wind kommt von hinten, die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel. Das Meer ist sehr glatt. Es gibt so gut wie keine Wellen. Nicht so glatt wie im Film “Life of Pi”, aber das war ja eh Computeranimation.
“Perfect weather for hunting flying fish!”, sagt der Kapitän. Damit meint er fotografieren. Seine Frau, er und ich wandern nach vorne. Ich nehme eine Tasche mit. Drin ist die zweite Kamera mit dem Weitwinkelobjektiv, Sonnenmilch und eine Cola. Der Kapitän trägt einen Fotorucksack mit dem 500 mm Teleobjektivs von Nikon.
Das Wetter ist perfekt für die Fotografie von fliegenden Fischen, wenn man es beherrscht.
Man muss sich das Fotografieren von fliegenden Fischen so vorstellen: Die Fische sind etwa so groß wie ein Hering. Wir Fotografen stehen auf einer Plattform, höher als ein Zehn-Meter-Turm beim Schwimmbad. Alles bewegt sich: die Wellen und das Wasser schaukeln, das Schiff fährt nach vorne, die flinken Fische fliegen vom Schiff weg. Es ist schwierig, die Tiere überhaupt schnell genug vor die Linse bekommen und dann zu verfolgen.
Ich habe nur ein 300 mm Tele. Das reicht mir fürs Erste aus. Mit der Brennweite muss ich erstmal lernen, die schnellen Fische überhaupt zu verfolgen. Gleichzeitig muss fokussiert und abgedrückt werden. Ich bin froh wegen des Tipps vom Kapitän mit dem Back–Button Focus. Wichtig ist auch, dass ich meinen Oberkörper frei bewegen kann. Wenn ich mich an die Reling anlehne, bekomme ich das Rohr nicht schnell genug hoch. Schließlich stelle ich die Kamera auch noch auf Continuous Shooting. Wenn ich abdrücke, macht die Kamera mehrere Bilder hintereinander.
Wenn also ein fliegender Fisch aus dem Wasser auftaucht, reiße ich die Kamera ans Auge, ziele, stelle schnell scharf und drücke ab. Zack, Zack, Zack, Zack, Zack, Platsch! Nach fünf oder sechs Fotos verschwindet der Fisch wieder im Wasser.
Ich wusste nicht, dass fliegende Fische so weit gleiten können. Oft sind es mehrere hundert Meter. Manchmal “laufen” sie mit ihren Schwanzflossen auf der Wasseroberfläche, um wieder Geschwindigkeit und damit Auftrieb zu bekommen. Manchmal fallen sie beim Laufen auch hin.
Mit den fliegenden Fischen ist es inzwischen wie mit Springböcken im Etosha Nationalpark. Es gibt sie zu tausenden. Sie sind aber wunderbar zum Training der schnellen Wildlife Fotografie zu gebrauchen.
So langsam habe ich den Dreh raus und schaffe auch ein paar schöne Fotos.
Wir stehen stundenlang am Balkon. Am Ende habe ich fast 500 Fotos im Kasten. Die meisten zeigen nur Wasser.
Zwischendurch hebe ich den Blick, um weiter wegzuschauen. Für Fotos ist alles über 100 m entfernt, wegen dem Dunst auf dem Wasser, nicht gut geeignet, aber vielleicht gibt es noch etwas anderes als fliegende Fische?
Einmal sehe ich eine riesige Rückenflosse im Wasser. “Shark!”, rufe ich laut. Dem Kapitän gelingt es, mit seinem großen Objektiv ein Foto von der Flosse zu machen. Er ist aber skeptisch, ob es ein Hai ist. Die Flosse ist viel zu groß für einen gewöhnlichen Hai. Das war eher ein Wal. Vielleicht ein Orca?
Später hat er in seinen Bestimmungsbüchern gewälzt und sein Foto mit den Bildern der Wal– und Haifischflossen verglichen. Es ist doch ein Hai, ein Blue Shark. Die sind so groß und sie sind in diesem Teil des Ozeans zu Hause. Die Form der Flosse passt. So habe ich einen Blue Shark gesehen.
Ein wenig später rufen die Pflichten des Kapitäns ihn zurück zur Brücke. Seine Frau und er verabschieden sich.
Kurz darauf kommt Pierre. Er hat schon am Morgen ein paar sehr schöne Fotos von den fliegenden Fischen gemacht. Er ist zu Recht stolz. Aber er ist davon überzeugt, dass er noch bessere machen kann. Wir gehen wieder auf Jagd auf die fliegenden Fische.
Zwischendurch schaue ich wieder auf und suche noch Flossen von Haien oder Meeressäugern. Bei dem glatten Meer ist es relativ einfach. Ich suche dunkle Stellen an der Oberfläche. Inzwischen habe ich gelernt, Wellenkämme von anderen Dingen zu unterscheiden. In weiter Ferne erspähe ich Wale. Sie sind von der Sorte, die ich am Vortag schon gesehen habe. Pierre sagt, das sind die, die die Japaner zu “Forschungszwecken” jagen. Ich muss mal in das Bestimmungsbuch vom Kapitän gucken.
Wir sehen öfters mal eine Qualle. Das sind solche, die einen mit Luft gefüllten Schwimmkörper haben, wie die portugiesischen Galeeren. Aber sie sind sehr viel größer (ich schätze mal 20 bis 30 cm) und haben eine gelb–orangene Farbe mit pinken Akzenten.
Ich habe inzwischen vier Stunden auf dem Balkon verbracht. Meine eine Hand tut mir vom Halten des Objektivs weh, aber die Jagd auf fliegende Fische macht mir immer noch Spaß.
Abandon Ship
Um 15:00 Uhr gehe ich zurück zur Kabine. Für 15:20 Uhr ist ein “Abandon Ship Drill” angekündigt. Als das Alarmsignal erschallt, gehen alle auf Deck D zur “Muster Station”. Diesmal müssen wir auch unsere Rettungsanzüge mitnehmen, aber nicht anziehen. Der Third Officer überprüft, ob alle da sind.
Als Nächstes muss die Mannschaft des Schiffes ins Rettungsboot klettern. Wir Passagiere sind davon ausgenommen. Der Kapitän, der sich im Augenblick um die Brücke kümmern muss, da alle Offiziere am Drill teilnehmen, beobachtet alles von oben. Der Koch darf ausnahmsweise mal früher gehen, weil er noch viel für das Barbecue am Abend zu tun hat. Pierre und ich machen Fotos.
Im Rettungsboot nehmen die Seeleute auf den Sitzen Platz und schnallen sich an. Es geht bei der Übung darum, dass jeder weiß, was zu tun ist, wenn das Schiff verlassen werden muss. Außerdem sollen sie sich an die klaustrophobischen Umstände in dem Rettungsboot gewöhnen. Im wirklichen Ernstfall wäre das Verlassen des Schiffes schon stressig. Da will keiner, dass irgendjemand auch noch Platzangst hat.
Kurz danach ist die Übung vorüber. Alle dürfen gehen. Ich laufe nochmal zum Bug des Schiffes und schieße ein paar fliegende Fische ab. Da die Sonne immer noch vom Himmel knallt, bastele ich mir aus meinem Piraten–Palästinensertuch eine Kopfbedeckung.
Kurz vor 18:00 verlasse ich den Balkon wieder. Das große Barbecue steht als Nächstes auf dem Programm.
Der Junge mit der Mundharmonika
“Zuhause bin ich Gott”, sagt Pierre zu mir. Er hat es bereits mehrmals gesagt.
Pierre hat auch schon mehrmals sein Weinglas nachgefüllt.
Vielleicht habe ich ihn völlig falsch verstanden. Ich habe schon zwei Gläser polnischen Wodka intus. Und ein Bier und ein (oder waren es zwei?) Glas Wein.
Außerdem ist die Musik ziemlich laut und alle Männer unterhalten sich in gehobener Lautstärke, um die Musik zu überbrüllen.
Ich habe Pierre höchstwahrscheinlich falsch verstanden.
Wir sind alle ziemlich betrunken. So ist das, wenn man mit polnischen Seeleuten unterwegs ist. Sie trinken Wodka oder Kognak aus Wassergläsern.
Ich habe auch Wodka aus Wassergläsern getrunken, aber jeweils ein, höchstens zwei Finger breit. Es waren also nicht volle Gläser wie die polnischen Seeleute. “You say when to stop” haben sie mir gesagt, als sie mir Wodka ins Glas taten. Bei einem Finger sagte ich “Stop!” Es kam noch ein Schluck mehr, aber das ist okay, damit habe ich gerechnet, es einkalkuliert.
Am Ende des Abends habe ich einen jungen polnischen Matrosen im Arm. Er könnte mein Sohn sein. Er ist höchstens 20 Jahre alt. “I don’t understand”, sagt er mehrmals zu mir. Und: “I understand everything.” Das muss man nicht verstehen. Und wir verstehen uns. Er hat schon mehr Wodka getrunken als ich.
Er will mir irgendwas sagen.
“You understand?”, fragt er mich. Ich weiß nicht wirklich, was er mir sagen will, aber irgendwie verstehe ich ihn schon.
“You make beautiful music”, sage ich ihm. Er tut es wirklich.
Er spielt Mundharmonika. Nicht aufdringlich. Er improvisiert eher zur Musik, die gerade läuft. Wir hören den ganzen Abend die Musik vom Kapitän aus einer Anlage, die gleich neben der Tür zum Deck steht. Der Kapitän ist derselbe Jahrgang wie ich, das heißt er spielt die Musik meiner Generation. Die beste Musik. Der junge Matrose ist zwar eine Generation jünger, aber er gibt der Musik seinen eigenen Touch mit der Mundharmonika.
Er freut sich, dass ich sage, dass er schöne Musik macht. Wir umarmen uns herzlich.
Das muss man jetzt nicht verstehen. Wir sind alle ziemlich betrunken.
Am Anfang des Abends sind wir noch alle schüchtern miteinander umgegangen. Zum ersten Mal während der Reise sitzen alle Menschen, die auf diesem Schiff reisen, gemeinsam an einem Tisch. Bisher haben die Offiziere und die Passagiere in der Offiziersmesse gegessen, der Rest der Mannschaft in einem anderen Raum. Irgendwie dazwischen waren der Koch und Robert, der Steward.
Ich habe bisher also eher die Offiziere und Ingenieure kennengelernt. Die anderen Seeleute habe ich ab und zu auf dem Deck getroffen. Wir haben uns immer freundlich gegrüßt, aber das war dann schon der Kontakt, den wir miteinander hatten.
Heute Abend ist nun das Barbecue. Alle freuen sich schon seit Tagen darauf. Wir sitzen draußen auf Deck D. Während der Woche hat der Koch diesen Abend vorbereitet. Es gibt Unmengen von Fleisch, Kartoffeln in Folie, Salate, Brötchen. Zu trinken haben wir Wein, Bier, Wodka und Kognak. Ganz viel Wodka und Kognak.
Die Polen trinken Wodka aus Wassergläsern. Und zwar wie Wasser. Aus vollen Gläsern.
Ich habe eine Kiste Bier gesponsert, Pierre in paar Flaschen Wodka. Das kommt gut an bei den Seeleuten. Sie prosten uns zu. Da Pierre nächste Woche Geburtstag hat, singen sie aus voller Brust ein Lied. Es ist polnisch, aber ich verstehe es trotzdem. Ich frage den Third Officer, der neben mir sitzt, ob das Lied sowas wie “Lang soll er leben!” sagt. Er bejaht.
Es gibt Schüsseln über Schüsseln mit Fleisch: Steak vom Rind, Schaschlik, Kalbssteaks, Schweinenackensteaks.
Die Matrosen grillen ihr Fleisch selbst. Wir sitzen an einem großen quadratischen Tisch. An jeder Seite sitzen sechs Personen. Reihum stehen diese Sechsergruppen auf, gehen zu einem halben Ölfass, dass zu einem Holzkohlegrill umgebaut wurde, und tun das drauf, was immer sie wollen. Wenn sie fertig sind, geht die nächste Gruppe. Nur der Kapitän und wir Gäste müssen nicht selbst grillen. Das merke ich, als ich auch zur Feuerstelle gehe. Ich werde vom Koch aufgehalten und gefragt, was ich denn gerne hätte. Rumpsteak und Schaschlik. Wie hätte ich gerne mein Steak? Medium. Alles okay. Er wird es für mich zubereiten. Kurz darauf später bringt Robert mir mein Fleisch. Es ist perfekt auf den Punkt. Dazu noch eine halbe Folienkartoffel und viel Salat. Später bekomme ich noch ein Kalbsteak und noch eine Kartoffel.
Zu dem Zeitpunkt habe ich noch nicht viel getrunken. Aber ich liebe den Koch. Und Robert.
Pierre hat schon mehrere Gläser Wein getrunken und erzählt mir, dass er viele seiner Träume erfüllen konnte. Das Lied der Matrosen, die ihm noch ein langes Leben wünschen, hat ihn nachdenklich gemacht. Wenn er heute tot umfallen würde, sagt er, könnte er behaupten, dass er ein erfülltes Leben hatte. Ich stimme ihm zu. Pierre hatte ein großartiges Leben. Aber er wird ja noch viele Jahre mehr haben, um sich noch ein paar Träume mehr zu erfüllen. Das haben die Matrosen ihm in dem Lied gewünscht und das wünsche ich ihm auch.
Nach dem fünften oder sechsten Wein sagt Pierre zu mir, dass er zu Hause Gott ist. Aber vielleicht habe ich ihn falsch verstanden. Ich war inzwischen nämlich aufgestanden, zum anderen Ende des Tisches gegangen und habe den Second Engineer gebeten, mir Wodka in mein Wasserglas zu tun. “You say when to stop.” Ich will einen Finger breit und bekomme zwei. Auch gut.
Ab dem Augenblick gehöre ich zur Mannschaft. Schließlich trinke ich Wodka aus einem Wasserglas. Sie prosten mir zu. Wir sind beste Freunde.
Zwischendurch machen wir mehrmals eine La Ola–Welle rund um den Tisch. Natürlich mache ich mit. Pierre und der Kapitän auch.
Ich schnorre mir eine Zigarette von einem Seemann. Pierre ist entsetzt. “Du rauchst?”, fragt er. “Eine Zigarette im Jahr”, antworte ich. Am Ende des Abends waren es zwei. Der Seemann, von dem ich die Zigaretten bekomme, sagt, dass ich immer zu ihm kommen könnte, wenn ich eine rauchen will. Ich bedanke mich, sage aber, dass ich eigentlich nur eine Zigarette im Jahr rauche.
Der glatzköpfige Seemann, der immer mit einem Kopftuch herumläuft, steht auf und tanzt zur Musik. Wenn er die Arme im Rhythmus hebt, zieht sich sein Shirt nach oben und sein Bauchnabel lugt hervor. Das kümmert ihn nicht. Er ist unter seinen Freunden und Kollegen und er will tanzen. Der junge Matrose mit der Mundharmonika improvisiert zur Musik. Wir alle klatschen im Rhythmus.
Ich hole mir noch einen Wodka. Robert schenkt ihn mir ein (zwei Finger breit) und fragt, ob ich auch Cola oder Fanta dazu haben möchte. Nein, ich möchte meinen Wodka pur. Boah ey! Die Matrosen sind beeindruckt.
“Nastrowija!”, rufen wir alle. Das Wort wird ein wenig anders ausgesprochen als in Russisch. Der Kapitän meint, dass ich die Aussprache perfekt hinkriege.
Die Wodkaflasche ist alle. Magischerweise stehen plötzlich volle Flaschen auf dem Tisch. Bei den Polen ist das so.
Ich liebe sie alle, diese polnischen Seeleute.
Vielleicht habe ich doch zu viel Wodka, Wein und Bier getrunken. Ich schwenke auf Wasser um.
Pierre erzählt mir nochmal die Geschichte seines Lebens, sagt, dass er ein erfülltes Leben hatte und dass er bei sich zu Hause Gott ist.
Der Seemann, von dem ich die Zigaretten geschnorrt hat, erzählt mir von seiner Frau. Sein Englisch ist sehr einfach, ihm fehlen die Worte und irgendwann schaut er nur noch traurig, trinkt seinen Wodka und raucht noch eine Zigarette. Er vermisst seine Frau.
Pierre sagt nicht mehr viel, weder über sein Leben, noch dass er Gott bei sich zu Hause ist.
Wobei ich das mit Gott bestimmt falsch verstanden habe, nach zweimal zwei Finger breit Wodka. Also fast ein Wasserglas voll.
Kurz darauf steht Pierre auf und geht ins Bett. Er lässt sogar ein fast volles Weinglas stehen.
Ich hole mir noch einen Wodka und habe kurz darauf den jungen Matrosen neben mir sitzen. Den mit der Mundharmonika. Er sagt mir auf Englisch, dass er nichts versteht und alles versteht und ich sage, dass ich ihn verstehe und dass er schöne Musik macht. Er umarmt mich und küsst meine Hand. Ein bisschen erinnert er mich irgendwie an meine Neffen, die ich sehr liebhabe, und an einen Hobbit.
Zwischendurch sagt der Kapitän zu mir, dass ich, wenn mir der junge Mann zu aufdringlich wird, nur was sagen muss. Ich sage, dass alles gut ist. Ich komme klar.
Es ist an diesem Augenblick, dass ich merkte, dass zwar alle ziemlich viel Alkohol getrunken haben, aber dass noch alles unter Kontrolle ist. Der Bosun, also der direkte Vorgesetzte des jungen Mannes, schaut wachsam herüber. Auch der Chief Engineer und er Kapitän passen auf, das nichts aus dem Ruder gerät. Ich fühle mich sehr sicher. Und ich habe Spaß.
Danach entscheide ich mich, ins Bett zu gehen. Ich bin sowas von fertig!
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Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
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