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Der Wecker klingelt um 6:00 Uhr. Heute stehe ich eine Stunde früher auf als sonst. Ich schaue aus dem Fenster. Rechts vorne sind Lichter. Ich schaue auf die Karte auf meinem Smartphone. Rechts liegt Teneriffa, links Gran Canaria.
Ich ziehe mich schnell an und gehe hoch auf die Brücke. Es ist noch dunkel. Schließlich ist hier eigentlich kurz nach fünf Ortszeit. Im Dunkeln erkenne ich den Chief Officer, der vor dem einen Radarschirm sitzt, grüße ihn und gehe dann nach draußen auf den Balkon rechts von der Brücke.
Die Lichter von Teneriffa funkeln am Horizont, so wie die Sterne über uns. Nur ab und zu blinkt ein etwas aggressiveres Licht zu uns rüber. Es ist der Leuchtturm an der Nordspitze der Insel.
Ich gehe rüber auf den Balkon links von der Brücke. Gran Canaria ist etwas weiter entfernt. Das Licht schimmert nur leicht hinter dem Horizont hervor. Zwei Leuchttürme blitzen von dort herüber.
Der Skorpion, mein Lieblingssternbild, ist im Osten aufgegangen. Ich schaue nach Norden, finde den Großen Bären und dann Polaris. Bald werde ich vom Polarstern Abschied nehmen müssen. Dafür werde ich das Kreuz des Südens haben, das Sternbild, dass mir immer sagt, dass ich zu Hause bin.
Ich gehe zurück auf die Brücke. Inzwischen ist auch der Kapitän nach oben gekommen. Er misst auf dem Radarschirm die Abstände zwischen uns und den Inseln. Teneriffa ist elf Seemeilen von uns entfernt, Gran Canaria zwanzig. Es sind, bis auf eine Fähre zwischen den beiden Inseln, keine anderen Schiffe unterwegs.
Um sieben Uhr schauen plötzlich alle auf ihr Mobiltelefon. Wir haben Empfang. Mein WhatsApp klingelt ununterbrochen. Fast 200 Nachrichten haben sich in den letzten Tagen gesammelt und kommen nun geballt bei mir an. Ich freue mich und lese die Botschaften. Ich kann zwar gut allein sein, aber der Kontakt zur Außenwelt, zu den Menschen, die mir am liebsten sind, ist mir auch wichtig und erfüllt mich mit Freude.
Es ist Zeit fürs Frühstück. Heute bleibe ich nicht so lange wie sonst bei Pierre sitzen, um noch einen Kaffee zu trinken. Es dämmert, bald geht die Sonne auf. Ich will wieder raus auf die Brücke. Es ist Zeit für mein Sonnenaufgangsfoto.
Aber zuerst das Allerwichtigste. Anita ist schon wach, hat auch schon versucht anzurufen. Wir telefonieren. Es ist so schön, ihre Stimme zu hören.
Draußen ist es kurz vor Sonnenaufgang. Teneriffa und Gran Canaria liegen im Dunst und nur ihre Umrisse sind zu erkennen. Einzig der Pico del Teide erhebt sich über den Dunst. Er wird schon von der Sonne angestrahlt.
Es sind wuchtige Inseln, die sich jäh aus dem Ozean erheben. Der Pico del Teide ist 3718 m hoch, der höchste Berg Spaniens.
Die Sonne geht in einem dunklen orange auf. Keine Wolke ist am Himmel. Ihre Strahlen überstrahlen bald die Umrisse von Gran Canaria. Die Insel ist nicht mehr zu sehen.
Ich will noch mal mit Anita sprechen, um mich von ihr zu verabschieden, aber der Mobilfunk ist ganz jäh weg. Von vollem Empfang auf nichts in ein paar Minuten. Schade, ich hätte gerne nochmal ihre Stimme gehört. Jetzt bleibt uns nur noch das Satellitentelefon.
Ich blicke noch lange auf Teneriffa und den Pico del Teide. Später hole ich mir einen der Deckstühle ins Freie und schaue zu, wie der Gipfel langsam im Dunst verschwindet.
Jetzt haben wir wieder nur den Himmel, das Meer und das Schiff.
Die Seeleute arbeiten schon hart. Gestern haben sie eine große Fläche von Rost befreit und die offenen Stellen mit roter Untergrundfarbe gestrichen. Jetzt ist die Flex wieder im Einsatz. Heute sind die Reling und die Seitenwände des Frachtraums dran.
Der Kapitän hat uns erzählt, dass die Schiffe 15, höchstens 20 Jahre halten. Alle fünf Jahre müssen sie zu einer Generalüberholung. Nach 15 oder 20 Jahren ist diese Generalüberholung zu teuer. Dann wird das Schiff verschrottet oder an irgendwelche Unternehmen, die nicht in den Häfen der zivilisierten Welt anlegen wollen, verkauft.
Der Wind kommt nun aus dem Osten. Wir können Afrika zwar nicht sehen, aber wir können es fühlen. Der Staub der Sahara klebt überall und wenn ich die Reling anfasse, hat sie eine Oberfläche wie ganz feines Sandpapier.
Beim Mittagessen erweitere ich meine, eigentlich sehr guten, Geografie–Kenntnisse. Ich weiß jetzt, wo die Marshallinseln sind: mitten im Pazifik. Der Kapitän meint, es sind ein paar Felsen im Ozean, auf denen ein paar hundert Menschen wohnen. “Die arbeiten sicher alle in der Schiffsregistrierungsbehörde”, sage ich. Er schaut zweifelnd. Ob die Schiffsregistrierungsbehörde der Marshallinseln überhaupt auf den Marshallinseln ist?
Wir sprechen darüber, dass heutzutage nur wenige Handelsschiffe unter europäischen Flaggen fahren. Die Kosten dafür sind einfach zu hoch. Früher registrierte man sein Schiff in Liberia, heute sind es die Marshallinseln. Dieser kleine Inselstaat hat seine Schifffahrtsgesetze eins zu eins aus den amerikanischen Gesetzen zusammen kopiert.
Wenn ein Schiff unter den Marshallinseln registriert ist, bringt das neben den geringeren Kosten auch andere Vorteile. Ich hatte ja in der ersten Woche in Hamburg schon gelernt, dass ein Schiff unter deutscher Flagge deutsches Hoheitsgebiet ist und deshalb einen deutschen Kapitän (oder zumindest einen mit EU–Bürgerschaft) erfordert. Die Marshallinseln sind da nicht so pingelig. Kapitän kann jeder mit einem Kapitänspatent sein. Damit will ich hier keineswegs sagen, dass das deutsche Kapitänspatent besser als alle andere ist. Mein Eindruck von unserem polnischen Kapitän ist, dass er ein intelligenter und sehr fähiger Kapitän ist.
Und nur weil ein Schiff in den Marshallinseln registriert wurde, muss nicht bedeuten, dass es ein schlechtes Schiff ist. Es muss, um in europäischen Häfen anlegen zu können, den Ansprüchen der deutschen Lloyd genügen. Es wird genauso oft generalüberholt wie europäische Schiffe auch.
Der Kapitän hat die Luke zum Balkon des vorderen Decks öffnen lassen. Nach dem Abendessen gehe ich nach vorne. Ich treffe den Kapitän und seine Frau, die auf zwei großen Pollern sitzen und sich unterhalten. Ich solle unbedingt mal hochgehen, sagt er. Es ist zwar noch sehr windig, aber wenn der Wind von hinten kommen würde, wäre es der friedlichste Platz auf dem ganzen Schiff.
Ich klettere die Leiter hoch. Der Boden des Balkons ist leicht nach vorne abgeschrägt. Schließlich ist es auch das Dach des Decks darunter. Aber es ist nicht zu steil und vorne gibt es eine dicke Reling, genau die richtige Höhe für mich, dass ich mich vorlehnen und aufs Wasser schauen kann.
Es ist der schönste Ort auf dem ganzen Schiff, auch mit Wind aus der falschen Richtung. Es ist der einzige Platz, wo man das Meer unverwirbelt vom Schiff sehen kann. Ja, Leo auf der Titanic hatte recht: Es ist, als ob man übers Wasser fliegt.
Ich stehe ca. 12 m über der Wasserlinie und schaue auf die Wellen, die auf mich zukommen und unter dem Schiff verschwinden. Der Wind ist allerdings recht stark, die Wellen sind wieder etwas größer, mit weißer Gischt auf den Kämmen. Auf den Wellen sind wiederum Wellen, wo der Wind das Wasser kräuselt.
Die Gischt bildet einen Dunst – noch nicht so dick wie Nebel, aber heute werden wir keinen Sonnenuntergang beobachten können. Der Dunst hat allerdings auch eine gelbbraune Tönung. Das ist der Sand der Sahara, den der Wind zu uns herüberbläst.
Ich stehe eine halbe Stunde da und blicke aufs Wasser. Ab und zu schaue ich auf. Jeden Wellenkamm, der sich anders bewegt, gucke ich mir genau an. Ist das vielleicht eine Flosse oder Fluke? Aber nein, es ist nur das Wasser und der Wind.
Das wird mein neuer Lieblingsort werden.
Die Sonne geht unter und ich laufe zurück zum Schiffsgebäude.
Beim Abendessen gebe ich dem Kapitän das Buch von Scott Kelly zurück. Er gibt mir einen USB–Stick. Darauf sind Videos zu dem Buch. Ich freue mich darauf, ihn gleich in das Fernsehgerät zu stecken und mit den Videos anzufangen.
Um Mitternacht sind wir auf N24° 14.083′ W17° 23.687′.
Wir sind 80 km vom Wendekreis des Krebses entfernt und 153 km von der Küste Afrikas.
Namibia kommt immer näher. In 10 Tagen werden wir in Walvis Bay ankommen. Das erfüllt mich ein wenig mit Traurigkeit. Im Augenblick möchte ich nicht, dass diese Reise zu Ende geht. Ich hoffe, dass ich in 10 Tagen bereit dazu bin.
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Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
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