This post is also available in: English (Englisch)
Heute habe ich die letzte saubere Unterhose angezogen. Also muss ich mal aktiv werden und Wäsche waschen. Es gibt eine Waschmaschine auf dem D–Deck für die Offiziere, die wir Passagiere benutzen dürfen. Außerdem gibt es ganz unten noch eine Wäscherei mit Waschmaschinen und Trockner. Da die Maschinen dort öfters benutzt werden, wasche ich bei den Offizieren und bringe dann das Zeug ganz runter, um es zu trocknen.
Nun ist alles gewaschen, getrocknet, gefaltet und weggeräumt.
Ein Tipp für die, die eine Schiffsreise auf einen Frachter antreten werden: Nehme bügelfreie Wäsche mit! Der Trockner hat keinen Knitterschutz. Es gibt zwar auch ein Bügelbrett und –Eisen, aber zum Bügeln habe ich keine Lust. Noch habe ich genug gebügelte Oberbekleidung dabei. Die Unterwäsche und der Schlafanzug müssen nicht gebügelt werden.
Beim Mittagessen habe ich ein interessantes Gespräch mit dem Cargo Agenten der Reederei in Antwerpen. Die Planung für das Beladen des Schiffes fängt vier Wochen vorher an. Er kann, mit Papier, Kugelschreiber und Taschenrechner einen groben Plan von dem machen, was wohin kommt. Dabei kommt es auf drei Faktoren an: die Größe des Objekts, das Gewicht und die Reihenfolge der Häfen, die angefahren werden.
Bei der Größe geht es um den Raum, der eingenommen wird. Was passt wohin? Wenn ein riesengroßes Objekt mitgenommen wird, muss dann überlegt werden, was noch daneben passt. Es ist wie überdimensioniertes 3D–Tetris.
Beim Gewicht ist es wichtig, dass das Schiff ausbalanciert ist. Es dürfen nicht alle schweren Dinge nur vorne oder hinten oder nur rechts oder links verladen werden. Das Schiff muss am Ende ruhig und gerade im Wasser liegen.
Bei der Reihenfolge der Häfen kommt es darauf an, was oben und was unten verladen wird. Die Fracht für Walvis Bay muss oben liegen, denn das ist der erste Hafen, der angelaufen wird. Man will ja nicht gleich ein ganzes Schiff ausräumen, nur um einen Container von ganz unten herauszunehmen.
Die Grundlage von all dem ist, wie immer und überall in unserem Universum, die Physik. Die Festigkeit des Stahls, die Dichte des Wassers, die Erdanziehungskraft, der Auftrieb, Hebelwirkungen, Wellen, Balance, die Verbrennungskraft des Treibstoffs, Stärke der Maschine, Geschwindigkeit des Fahrzeugs, Widerstand von Wind, Wasser und Strömungen; diese Dinge und viele mehr setzen dem Schiff seine Grenzen. Werden diese Grenzen überschritten, ist, im leichtesten Fall, die Fahrt ineffizient, im mittleren Fall geht irgendwas kaputt und im schwersten Fall geht das Schiff unter. Natürlich soll gar keine Grenze der Physik überschritten werden. Auf der anderen Seite sie sollen auch nicht zu weit unterschritten werden.
Es geht, wie immer in der Schifffahrt, um Geld. Werden die Grenzen der Physik überschritten, wird es richtig teuer, werden sie zu weit unterschritten, ist der Gewinn nicht groß genug. Die Aufgabe des Cargo Agenten ist es, die goldene Mitte zu finden.
In der nächsten Runde wird die Grobplanung mit dem leitenden Offizier auf dem Schiff besprochen und das Ganze dann per Computer verfeinert.
Am Ende weiß der Cargo Agent bis auf dem Zentimeter genau, wo was hinkommt, weiß, wie lange die Verladung dauert und wie viele Menschen, Kräne, Gabelstapler und andere Ausrüstung gebraucht werden. Je nach Zeitplan des Schiffes geht es auch um Nacht– und Wochenendarbeit. Für die Bright Sky hat er 20 Crew–Gruppen, die bei der Beladung aktiv sind.
Die Planung beginnt zwar vier Wochen früher, aber Dinge können sich sehr kurzfristig ändern. Zu dieser Ladung hat der Cargo Agent letzten Freitagnachmittag einen Anruf bekommen. 20 Tonnen Stahlplatten sollten noch mit. Das hieß für ihn, dass er das ganze Wochenende über vor dem Computer saß und austüfteln musste, wo er die Platten unterkriegt. Am Montagmorgen kam dann wieder ein Anruf, dass man es sich anders überlegt hätte und die Stahlplatten erst mit dem nächsten Schiff schicken würde. Ein Wochenende Arbeit für nichts.
Bei der Beladung selbst geht es um jede Minute. Wenn eine Crew eine Viertelstunde warten muss, weil etwas nicht rechtzeitig da ist oder der Laderaum des Schiffes nicht rechtzeitig geöffnet wurde, kostet es 500 € fürs Nichts–Tun.
Die Alternative sind Container. Da wird nur überlegt, ob der rote Container über oder unter den blauen Container kommt. Containerschiffe sind sehr einfach zu beladen. Sie sind effizient. Unser Cargo Agent in Antwerpen hasst sie. Das ist kein Shipping mehr, das ist extended Logistics. Mit Containerschiffen will er nicht arbeiten.
Leider graben die Containerschiffe den Mehrzweckfrachtern immer mehr das Wasser ab. Auch Schüttgut lässt sich in Container verfrachten. Und, in der Schifffahrtskrise, haben Containerschiffe auch große Maschinen, die nicht in Container passten, mitgenommen. Aber die Sicherung dieser Fracht in einem Containerschiff ist sehr kompliziert und meistens kam die Fracht beschädigt am Ziel an.
Bei Containerschiffen kommt es auf jede Minute an. Während bei Schiffen wie der Bright Sky in Zeitspannen von Tagen gerechnet wird, geht es bei Containerschiffe um Stunden und Minuten. Sie müssen zu einer bestimmten Uhrzeit am Containerterminal sein, sonst verlieren sie ihren Platz. Das ist auch ein Grund, warum die MSC Zoe vor ein paar Tagen 270 Container in der Nordsee verloren hat. Das Schiff ist trotz Sturm, viel zu schnell gefahren, weil es einen Termin einhalten musste.
Wir sprechen auch über die Umweltfreundlichkeit der Schifffahrt. Der Mann ist noch jung, vielleicht 35 Jahre alt, und dem Umweltgedanken sehr aufgeschlossen. Er findet es traurig, dass Schiffe oft als schmutzig angesehen werden. Fakt ist, dass die Schifffahrt die energieeffizienteste Art des Gütertransports ist. Vergleichen wir mal den Treibstoffverbrauch eines Schiffes mit dem von LKWs. Den Treibstoff, den ein Schiff braucht, um eine Ladung von Hamburg nach Shanghai zu bringen, haben LKWs, die dieselbe Ladung transportieren schon auf dem Weg von Hamburg nach München verbraucht. Noch schlimmer ist der Gütertransport mit Flugzeugen. Ja, Schiffe sind langsamer als LKWs und Flugzeuge, aber am Ende das Beste für die Umwelt.
Es ist auch keinesfalls so, dass Schiffe immer die Luft verpesten. Die International Maritime Organisation verschärft immer wieder die Abgasregeln für Schiffe. Diese besseren Emissionswerte können auf einen von zwei Wegen erreicht werden: Der Treibstoff muss sauberer werden oder die Schiffe müssen Filteranlagen für die Abgase einbauen. Langfristig gesehen ist sauberer Treibstoff die preiswertere Alternative, aber es ist jetzt schon abzusehen, dass dieser Treibstoff nicht überall verfügbar sein wird. In Europa ist man in der Lage, den saubereren Treibstoff zu liefern, aber nicht in Asien oder Afrika – und wenn dann für den fünffachen Preis. Das hat zur Folge, dass die Schiffe doch teuer aufgerüstet werden müssen.
Bevor wir also über schmutzige Schiffe schimpfen, so der Cargo–Agent, sollen wir erstmal überlegen, ob wir Flugobst oder die neusten Gadgets von Alibaba per Luftfracht brauchen. Warum müssen Äpfel aus der ganzen Welt eingeführt werden, wenn die Bauern in Belgien auch Äpfel anbieten, aber von Billigware aus anderen Ländern überboten werden? Brauchen wir wirklich Erdbeeren um die Weihnachtszeit?
Schiffe gehen eher zum slow Transport über. Man fährt ein paar Knoten langsamer und kann dadurch 40 bis 50 Prozent Treibstoff einsparen. Das ist gut für die Umwelt und billiger für die Reederei, aber das beißt sich wieder mit dem Verlangen der Verbraucher alles sofort verfügbar haben zu wollen.
Es ist ein sehr angenehmes Gespräch mit dem Mann, bei dem man sieht, dass er seine Arbeit liebt. Wenn das Schiff ablegt, ist sein Job getan und kann er kurz feiern, bevor dann die Planung der Ladung des nächsten Frachters beginnt.
Von ihm erfahre ich noch ein paar Fakten zur Bright Sky: Das Schiff selbst wiegt 60 000 Tonnen. 32 000 Tonnen können zugeladen werden. Die Wasserverdrängung des Schiffes, wenn es voll beladen ist, ist 54 000 Tonnen. Wasser ist 1000x dichter als Luft. Das erklärt, warum ein Passagierschiff mit 50 000 PS 30 km/h fährt und ein Bugatti mit 1200 PS 400 km/h schafft. Man muss den Wasserwiderstand mit in Betracht ziehen. Wenn man die 50 000 PS des Schiffes durch 1000 teilt, kommen 50 PS raus. Wenn jetzt noch das Gewicht des Schiffes berücksichtigt wird, muss man eher einen LKW mit 50 PS vor Augen haben.
Am Nachmittag wird der Frachtraum vor meinem Fenster völlig leergeräumt. Er ist 15 m tief. Ich rechne aus, dass unser zukünftiges Haus in Namibia in einem der zwei Hälften 12 mal reinpassen würde. Fünfzig lange Umzugscontainer könnten dort verladen werden. Man muss diese Dimensionen selbst erleben. Fotos geben sie nicht wieder und die eigene Vorstellungskraft reicht nicht aus.
Pierre kommt zum Abendessen zurück aufs Schiff. Er spricht mit dem Kapitän über seine Neugier (die ich in demselben Maß teile) und macht dabei eine Bemerkung, die mich zum Nachdenken bringt. Er sagt, dass ihm die ganze Schifffahrt interessiert, aber dass ihm Wissen allein nicht genug ist. Wenn er wissen will, wie groß ein Schiff ist, kann er es googeln oder er kann Bücher über die Seefahrt lesen. Das reicht ihm aber nicht aus. Er will es nicht nur wissen, sondern auch erleben.
Erleben ist mehr als Wissen. Als Bibliothekarin greife ich ja reflexhaft zu irgendwelchen Informationsquellen, wenn ich eine Frage habe. Wenn ich die Antwort finde, weiß ich mehr. Das ist schon eine Bereicherung. Noch mehr ist es aber, wenn ich es erlebe.
Nehmen wir mal dieses Schiff. Ich kann nachlesen, dass es 200 m lang und 30 m breit ist und voll geladen 92 000 Tonnen wiegt. Aber heute habe ich gemerkt, dass wenn ich diese Fakten an meine WhatsApp–Gruppen weitergebe und sie noch mit Fotos illustriere, die anderen, die nicht hier sind, immer noch keine Ahnung haben, wie groß die Bright Sky ist. Das muss man erlebt haben. Nur dann weiß man es wirklich. Und wenn man dann noch unser Schiff mit einem Containerriesen vergleicht, so kann man die wirklichen Relationen nur begreifen, wenn man beide Schiffe erlebt hat.
Ich mache mir einen Vorsatz für die Zukunft: Wenn ich zwischen Erleben und Wissen wählen kann, wähle ich Erleben.
Über diesen Vorsatz habe ich während der Reise immer wieder nachgedacht. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, viel Zeit zum Schreiben für unseren Blog zu nehmen und mir noch mehr Wissen über Dinge wie Foto– und Videobearbeitung anzueignen. Aber nach Pierres Erklärung habe ich mir gesagt: Erlebe das Schiff! Erlebe die Fahrt! Zeit zum Schreiben und Fotos bearbeiten kommt nach der Reise. Jetzt bin ich auf dem Schiff. Sei ganz da im Hier und Jetzt auf diesem Frachter. Ich werde vielleicht nie wieder eine Reise mit einem Schiff machen, also erlebe sie bewusst.
Möchtest du eine Übersicht aller Beiträge zu meiner Reise auf dem Frachtschiff Bright Sky sehen? Hier geht es zu einem Inhaltsverzeichnis.
Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
Schreibe einen Kommentar