This post is also available in: English (Englisch)
Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich an einem Ort, an dem kein Land in Sicht ist.
Das Meer hat eine dunkelgrüne Farbe, die Wellen weiße Gischthäubchen. Der Blick hebt sich. Eine gerade, dunkle Horizontlinie ist um uns herum. Darüber die Wolken. Die Wolken hängen nicht mehr so tief. Durch Lücken dringt Licht. Im Süden regnet eine Wolke ab. Auch bei uns hat der Wind ein paar Tropfen. Es ist kühl.
Da die Sicht um mich herum von Wolken, Horizontlinie und Wellen beschränkt ist, nehme ich Dinge wahr, die im Wuseln des normalen Lebens ausgeblendet werden. Die Möwen zum Beispiel. Sie schweben rechts, schräg über dem Schiff. Sie brauchen keinen Flügelschlag, um mithalten zu können. Es ist, als ob sie wie Drachen mit einer Schnur an der Reling befestigt sind.
Ein paar Schiffe sind um uns herum. Sie fahren in alle Richtungen. Eins kommt recht nah vor uns vorbei. Im Osten ist eine Ölplattform, die Gas abfackelt.
Es ist ruhig. Ja, man hört immer das Brummen der Maschine, aber sonst nicht viel.
Beim Frühstück sagt der Kapitän, dass wir nicht so schnell vorankommen wie er es gerne hätten. Die Strömung und der Wind kommen von vorne. Gegen 11:00 werden wir den Lotsen aufnehmen und dann geht es die Schelde herauf, durch eine Schleuse, bis nach Antwerpen.
Am Vormittag erreichen wir die holländische Küste und fahren ganz nah daran vorbei. Für meinen Geschmack ist es fast zu nah, denn man kann die Spaziergänger mit ihren Hunden am Strand sehen. Aber die Bright Sky bleibt brav zwischen den Bojen der Fahrrinne und ich denke mir: “Sollten wir irgendwo stranden, kann ich zumindest an Land schwimmen.”
Der Kapitän und seine Frau werden mir immer sympathischer. Beim Mittagessen frage ich ihn über die Vertragssituation der Seeleute aus. Sie bekommen meistens kurzfristige Verträge für eine Fahrt, in diesem Fall einmal ums Kap der Guten Hoffnung bis Richards Bay und wieder zurück. Sie suchen ständig den nächsten Vertrag. Während der Fahrt sind sie krankenversichert, zwischen den Fahrten müssen sie privat Vorsorge treffen. Für ihre Rente müssen sie selbst sparen. Seeleute haben allerdings auch ein paar Vorteile: Während sie auf dem Schiff sind, haben sie freie Kost und Logis. Sie zahlen keine Steuern.
Wir kommen von der Vertragssituation der Seeleute zu polnischen Reedereien und Werften, die einst der Stolz der Nation waren, aber nach dem Mauerfall zerschlagen und verscherbelt wurden (wenn nicht gar bestohlen, denn ganze Schiffe verschwanden plötzlich), über den kalten Krieg zum Zweiten Weltkrieg. Dann sprechen wir darüber, wie ganz Polen vom Kranken (Roosevelt), dem Irren (Stalin) und dem Zigarrenraucher (Churchill) während der Konferenz in Teheran nach Westen verschoben wurde. Wir gehen weiter in der Geschichte zurück zu den Preußen und Napoleon bis hin zu der Zeit, in der Polen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und dann wieder vor zum Zweiten Weltkrieg und zur kleinen Stadt Breda in Holland. Dort kämpften polnische Männer als Soldaten in der britischen Armee. Einer von ihnen verhinderte durch ein Gespräch mit den deutschen Soldaten, dass Breda von Panzern zerschossen wurde.
Ja, über solche Themen reden wir, wenn wir zu Tisch sitzen. Wenn wir wissen wollen, wie das Wetter ist, gucken wir auf eine App oder schauen aus dem Fenster. Hier geht es um richtig spannende Dinge. Ich habe Gesprächspartner nach meinem Geschmack.
Kurz vor dem Mittagessen haben wir einen holländischen Lotsen an Bord genommen und der weiß, was er tut. Hinter Vlissingen, an der Mündung der Schelde, übernimmt sein belgischer Kollege das Kommando. Der Fluss wird schnell immer schmaler. Alle Schiffe nach Antwerpen fahren brav hintereinander zwischen grünen und roten Bojen entlang. Dabei geht es keinesfalls schnurgerade immer den Fluss entlang. Nein, wir fahren Schlangenlinien. Pierre erzählt mir später, dass er den Lotsen gefragt hat, warum die Fahrrinne auf der Schelde so angelegt sei. Der hat geantwortet, dass man festgestellt hatte, dass das umweltfreundlicher ist. Bei einer begradigten Fahrrinne ist die Strömung des Flusses schneller. So versucht man die Schifffahrt, die für die Gegend sehr wichtig ist, mit Umweltbewusstsein zu verbinden.
Apropos Umwelt. Bei Zandvliet kommen wir an einem Atomkraftwerk vorbei, welches ich misstrauisch beäuge. Die belgischen AKWs sind ja berüchtigt wegen ihrer Baufälligkeit. Wenn die mal wie Tschernobyl oder Fukushima in die Luft fliegen würden, hätten nicht nur die Belgier das Problem, dass sie nicht mehr ihre Autobahnen mit Straßenlampen beleuchten könnten, sondern auch ganz Nordrhein–Westfalen würde da was von abbekommen. Aber während wir daran vorbei schippern, passiert nichts Aufregendes.
Dann kommen wir zur Schleuse – die Berendrechtsluis. Die Bright Sky wird hier um ein paar Meter angehoben. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich in einer Schleuse bin, aber das erste Mal auf einem 200 m langen und 35 m breitem Schiff.
Im Schritttempo geht es in die Schleuse hinein. Ein anderes, kleineres Schiff ist schon drin, aber wir passen noch dahinter. Es fährt sogar noch eine weitere Barge an uns vorbei nach vorne zum ersten. Wir werden an Land vertäut.
Dann schließt sich die Schleuse hinter uns und Wasser wird in das Schleusenbecken gepumpt, bis es auf derselben Höhe wie der Kanal auf der Antwerpen–Seite der Schleuse ist.
Schon nach 10 oder 15 Minuten ist genug Wasser in der Schleuse, dass das vordere Tor geöffnet werden kann. Die beiden kleineren Schiffe dürfen schon los. Wir müssen noch warten. Schließlich schlägt auch für uns die Ampel auf grün. Leinen los. Ich stehe oben auf dem Balkon der Brücke, um die ganze Prozedur zu verfolgen.
Der Lotse steht an der Reling, schaut auf den Abstand zwischen Schiff und Kaimauer und gibt kurze Befehle wie “Starboard. More Starboard”. Der Chief Officer steht an einer Konsole auf dem Balkon, wiederholt den Befehl des Lotsen, “Starboard” und betätigt einen Joystick. Zentimeterweise entfernen wir uns von der Kaimauer der Schleuse. Als wir wieder in der Mitte des Beckens sind, dürfen wir langsam nach vorne fahren, bis auch das Heck der Bright Sky aus der Schleuse ist.
Nun geht es weiter Richtung Antwerpen. Wir erreichen den Churchilldok um 18:30 Uhr.
Es ist zwar Sonntag und schon Abend, aber die Ent– und Beladung der Bright Sky beginnt sofort. Die Lade–Luken werden geöffnet, die Schiffskräne werden so ausgerichtet, dass sie vom Dock weg zeigen, Bargen legen auf der Wasserseite an und Kräne auf der Kaimauer treten in Aktion. Es poltert und rummst. Das ganze Schiff schaukelt hin und her.
Möchtest du eine Übersicht aller Beiträge zu meiner Reise auf dem Frachtschiff Bright Sky sehen? Hier geht es zu einem Inhaltsverzeichnis.
Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
Schreibe einen Kommentar