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Mitternacht kommt und geht. Wir laufen nicht aus.
Beim Frühstück wollen wir natürlich wissen, wie der Stand der Dinge ist. Keiner weiß, wann es losgeht, keiner verspricht irgendwas. Der Ingenieur ist soooo frustriert. Er hat das Problem identifiziert, weiß aber nicht, wie er es beheben kann. Es handelt sich um vier von sieben Ventilen, wovon zwei ersetzt wurden. Immer wenn er alles auseinander, gecheckt und wieder zusammengebaut hat, funktionieren sie für kurze Zeit und dann wieder nicht. Er hat bis heute früh um 5:00 gearbeitet und ähnelt mittlerweile einem Zombie.
Pierre: “Vielleicht sollten wir einen Hexentanz um die Maschine machen.” Der Kapitän: “Ja, das Problem ist nur, wo bekommen wir die Hexe her?” und zwinkert mir zu. Ich: “Nicht ich! Ihr müsst eine ausHamburg finden, die auf ihren Besen einfliegt!”
Der Ingenieur muss nicht alles allein reparieren. Es gibt noch mehrere Ingenieure an Bord, die ihn unterstützen und in den letzten Tagen hat man wohl schon viele Kollegen in ganz Europa kontaktiert in der Hoffnung einen Rat zu bekommen.
Gestern habe ich den Chinesen von der Deutschen Lloyd mit ölverschmiertem Overall gesehen. Er konnte die Bright Sky nicht zum Auslaufen freigeben. Ich frage, ob Schiffe, wie Autos, auch regelmäßig zum TÜV, bzw. Von der Deutschen Lloyd überprüft werden müssen. Der Kapitän gibt bereitwillig Auskunft:
Schiffe, die in europäischen Häfen einlaufen, werden einmal im Jahr überprüft und alle fünf Jahre kommen sie aufs Trockendock für eine Generalüberholung. Manchmal scheuen die Eigentümer die hohen Wartungskosten und erpressen die Reedereien: Wenn ihr das Schiff nicht so nehmt, wie es ist, ziehe ich es aus der Reederei heraus. Die Reedereien gehen manchmal darauf ein, da es um große Gewinne geht, aber wenn es auffliegt, können sie bis zu zwei Jahren suspendiert werden und dann sind die Gewinne natürlich weg. Das ganze System macht also die Schifffahrt sicherer.
Wenn ich eins gelernt habe in der Woche, dann ist es, dass es sich in der Schifffahrt einzig und allein ums Geld geht. Jeder will dran verdienen: die Reedereien, die Schiffseigentümer, die Häfen. Riesige Summen an Euro werden hin und her verschoben.
Apropos Geld: ich habe heute gelernt, dass eine der Luxusyachten in Monaco eine Million Euro pro Meter Länge kostet. Die Wartungskosten pro Jahr sind 10 Prozent des Neupreises.
Vor dem Mittagessen müssen Pierre und ich mit unserer Rettungsausrüstung, die wir jeder im Schrank haben, zum Third Officer auf die Brücke. Bei der Rettungsausrüstung handelt es sich um eine orange Schwimmweste, einen noch oranger Neoprenanzug, der, bis aufs Gesicht, den ganzen Körper bedeckt, eine gelbe Warnweste und einen Helm. Der Third Officer erklärt uns alles, was in Notfällen passiert. Wir kennen jetzt das Alarmsignal (7 kurz, einmal lang) und wissen, wie wir Rettungsanzug und Schwimmweste anziehen müssen.
Dann gehen wir zum großen Rettungsboot, das draußen, vom D–Deck aus betreten werden kann. Es hängt hinten, mit einer 45 Grad Neigung am Schiff auf zwei Schienen. Wir klettern hinein und lernen, wo im Boot Wasser, Nahrungsmittel und Leuchtraketen sind. Es gibt 40 Sitze mit Sicherheitsgurten. Da sich 25 Personen an Bord befinden, ist also genug Platz für alle. Die Sicherheitsgurte sind dringend notwendig, denn im Notfall fällt das Rettungsboot aus den 6. Stock ins Wasser. Alle sitzen mit dem Gesicht nach hinten, nur der Steuermann hat einen Sitz nach vorne. Wenn alle angeschnallt sind, wird die Halterung gelöst und das Boot fällt ins Meer. Das können – je nachdem ob das Schiff sinkt oder nicht – über zwanzig Meter sein.
Vor dem Rettungsboot ist der Sammelpunkt, an dem sich alle treffen müssen, wenn ein Alarmsignal ertönt. Der dritte Offizier verspricht uns, dass, wenn wir auf hoher See sind, die Notfallübungen wie “Abandon Ship”, “Man over Board” und “Fire” regelmäßig geübt werden. Von uns Passagieren wird erwartet, dass wir daran teilnehmen. Sobald wir den Alarm hören, sollen wir uns warme Sachen anziehen und auf die Ansage über die Sprechanlage lauschen. Da wird uns gesagt werden, welche Übung es ist, und was wir zum Sammelpunkt mitnehmen müssen. Das mindeste sind immer der Helm und die Schwimmweste.
Als Nächstes gehen wir einmal bis ganz vorne ans Schiff. Auf dem Weg dahin zeigt der Third Officer uns noch die Rettungsringe und die Feuerlöscher. Schließlich erklärt er uns noch, wie wir eins der fünf Schlauchboote, die übers Schiff verteilt in weißen Tonnen aufbewahrt werden, aus der Hülle befreien und, wenn es dann im Wasser ist, richtig aufrichten können. Diese Information wird uns allerdings nur theoretisch gegeben. Verständlicherweise will er nicht ein Schlauchboot aus der Tonne herausholen.
Zum Schluss sehen wir noch das kleine Boot, dass mit einem Davit ins Wasser gelassen werden kann. Es wird vor allem dann benutzt, wenn jemand über Bord gegangen ist, um eben diese Person wieder aufs Schiff zu holen.
All diese Ausrüstung wird regelmäßig getestet. Die Schlauchboottonnen werden immer wieder mit neuen Tonnen ausgetauscht. Eine Firma in Antwerpen öffnet die alten Tonnen, überprüft die Schlauchboote und verpackt sie wieder. Die beiden großen Boote, das Rettungsboot und das Boot am Davit werden von der Mannschaft gecheckt. Und der Third Officer hat die Aufgabe, regelmäßig die Neoprenanzüge auf Löcher zu überprüfen und die Reißverschlüsse der Anzüge mit Fett gängig zu halten.
Ich hoffe, dass ich das Gelernte nie brauche. Der Kapitän sagt beim Mittagessen, dass Notfälle äußerst selten vorkommen, aber es kann passieren, dass jemand über Bord geht oder die Mannschaft das Schiff verlassen muss. Dann gibt er uns den Rat, dass wir im Notfall zuallererst an uns selbst denken sollen. Wir brauchen niemanden zu retten, jeder sollte sich selbst retten.
Pierre erzählt mir, dass er Wäsche waschen wollte, aber nicht konnte, da die Wasservorräte im Augenblick knapp sind. Das Schiff hat nämlich eine Entsalzungsanlage. Alles Trinkwasser an Bord wird aus Meerwasser gewonnen. Da wir im Hafen sind und das Wasser zu schlammig für die Anlage ist, wird im Augenblick kein Wasser gewonnen. Die Vorräte sollen aber bald von einem Tankschiff aufgefüllt werden.
Beim Abendessen erfahren wir, dass weitere Ersatzteile bestellt wurden, die, zum Glück ganz in der Nähe vorrätig sind. Morgen werden sie eingebaut und vielleicht fahren wir morgen Abend los. Ich bin inzwischen sehr skeptisch bei solchen Prognosen und halte es mit dem Third Officer: “Maybe today, maybe tomorrow, maybe next week.”
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Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
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