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Wir befinden uns am südwestlichen Ausgang des Ärmelkanals, nördlich der französischen Stadt Brest und südlich von Cornwall (N49° 09.429′ W5° 06.121′). Heute Mittag, so sagt der Kapitän beim Frühstück, werden wir sehen, was der Atlantik für uns hat.
Das Wasser des Ärmelkanals ist dunkelgrün. Dort, wo der Bug unseres Schiffs ins Wasser schneidet und Schaum aufwirbelt, ist es türkisblau. Die Wellen haben weiße Gischtkronen. Die Sonne scheint, die Sicht ist klar.
In der Nacht werde ich vom Schaukeln des Schiffes wach. Je nachdem, woher die Strömung und der Wind kommen, schaukelt das Schiff nach links und rechts, aber rollt auch von vorne nach hinten. Die Bright Sky ist so gebaut, dass die Unterkünfte ganz hinten sind. Wir bekommen die volle Hebelwirkung von vorne nach hinten zu spüren. Und hier oben, auf dem C–Deck, auch die seitlichen Bewegungen von links nach rechts.
Mein Körper reagiert auf das Schaukeln mit leichter Seekrankheit. Es ist noch nicht so schlimm, als dass ich etwas dagegen unternehmen muss. Im Augenblick nehme ich es einfach wahr. Ich merke, dass das Schaukeln einen Rhythmus hat und lasse meinen Körper in diesem Rhythmus wiegen.
Am erträglichsten ist es, wenn ich auf dem Bett liege. Dann wird der ganze Körper gehalten. Es ist wie in einer Wiege. Beim Sitzen wird der Körper mehr hin und her bewegt. Das verursacht mehr Übelkeit. Am Schlimmsten ist es beim Stehen und Gehen. Ich gehe breitbeiniger und versuche meine Knie locker zu machen.
Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, aber seitdem ich auf das Schaukeln achte, bin ich weniger seekrank.
Es ist mir zwar leicht übel, aber ich will noch nichts gegen Seekrankheit unternehmen. Ich will sie erstmal wahrnehmen und untersuchen. Ich möchte wissen, was sie verstärkt und was sie verringert.
Nach dem Frühstück gehe ich oben auf den Balkon der Brücke. Von dort schaue aufs Meer hinaus und beobachte die Wellen. Wir werden wieder von einem Geschwader Möwen begleitet, das unsere zehn oder elf Knoten schwebend mithält. Weil der Ärmelkanal so stark befahren ist, ist er in Fahrspuren eingeteilt. Wir fahren auf der Spur der Schiffe, die nach Südwesten fahren. Alle anderen Schiffe um uns herum fahren in dieselbe Richtung. Die Schiffe, die nach Nordosten fahren haben, hier auf unserer Spur nichts zu suchen.
Beim Mittagessen, das ich nicht aufesse, sagt der Kapitän, dass jeder normale Mensch mit Seekrankheit auf diese Umstände reagiert. Bei denjenigen, die nicht seekrank werde ist etwas nicht in Ordnung. Wir reden darüber warum ein solcher Seegang diese Auswirkung auf den Körper hat. Viel mehr Muskeln, als auf festem Boden, werden beansprucht, damit man aufrecht stehen oder gehen kann. Seine Empfehlung: wenn mir schlecht ist, sollte ich meine Augen nicht dazu zwingen, kleine Muster erkennen zu müssen, d. h. ich sollte nicht lesen. Am besten ist es an der frischen Luft zu sein und den Horizont anzuschauen. Dann gibt es nur Himmel, Horizont und Wasser und der Körper entspannt. Der Horizont ist ein Fixpunkt, der dem Gehirn beim Finden von Balance hilft.
Nur ist es draußen kalt. Es ist zwar wärmer als in Antwerpen und es wird jetzt jeden Tag wärmer werden, aber es ist immer noch kein Wetter, bei dem ich stundenlang draußen sein will.
Beim Mittagessen unterhalten Pierre, der Kapitän und ich uns auch über Seeräuberei. Kurz vor meiner Abreise hatte ich gelesen, dass Westafrika inzwischen die Hochburg der Piraterie sei. Der Kapitän bestätigt das. Früher war es die Straße von Malakka und der Golf von Aden. Beim Horn von Afrika hatte man, wie Pierre erzählt, das Problem “von oben” gelöst: Man hatte alle Piratenschiffe mit Bomben zerstört. Und auch die Straße von Malakka ist einfach zu wichtig für den internationalen Handel, als dass man dort Piraten ihr Unwesen hätte treiben lassen. Aber Westafrika ist anders. Auf gar keinen Fall will der Kapitän die Bright Sky nach Nigeria steuern müssen. Er erwähnt den Film “Captain Phillips”, in dem Tom Hanks den Kapitän eines Schiffs spielt, dass von Piraten überfallen wird und ist der Ansicht, dass der Film sehr realistisch sei. Es ist auch eine wahre Geschichte. Das will er selbst nie erleben und keinen seiner Crew oder einen Passagier dem aussetzen.
Nach einem Spaziergang draußen mache ich ein Mittagsschläfchen. Jetzt, wo wir den Ärmelkanal verlassen haben, wird die Richtung geändert von WSW nach SWS. Während am Vormittag die Wellen eher von vorne kamen, kommen sie jetzt von der Seite und wiegen uns. Sie wiegen mich in den Schlaf.
Vielleicht muss man diese ungewohnte Bewegung einfach mit positiven Begriffen verbinden. Wenn man an Übelkeit denkt, geht es einem schlechter, als wenn man das Schaukeln mit dem Begriff “Wiege” verbindet.
Am Abend, nach dem Essen, wird der Bottle Store eröffnet. Nur der Kapitän darf an Bord Wein und starken Alkohol verkaufen. Bier gibt es beim Steward. Pierre redet schon seit Tagen davon, dass er am Sonntag, also morgen, Wein trinken möchte, und steht wahrscheinlich ganz vorne in der Reihe. Ich denke darüber nach, ob ich Alkohol möchte und entscheide mich dagegen.
Die Bright Sky ist ein normales Frachtschiff. Die Besatzung darf Alkohol trinken, solange es sie nicht in ihrer Arbeit beeinträchtigt. Durch die Regel, dass nur der Kapitän harte Alkoholika verkaufen darf, ist das auch unter Kontrolle. Frachter, die Gefahrgut transportieren, sind “dry ships”. Nicht nur darf auf diesen Schiffen kein Alkohol konsumiert werden, es darf noch nicht mal Alkohol an Bord sein.
Während die Mannschaft beim Bottle Store Schlange steht, habe ich den allgemeinen Computer für mich und kann schnell ein E–Mail an Anita schicken. Ich freue mich, dass sie meine E–Mails liest und beantwortet. Es ist nicht so, als ob ich mich einsam fühle – ich kann gut allein sein. Aber ich freue mich, weil sie sich für mich freut. Gerade heute denke ich oft an sie – sie hätte den Seegang auf dem Schiff gehasst und sehr gelitten.
Wenn wir erstmal durch die Biskaya sind, so der Kapitän, wird bis Kapstadt alles besser. In ein, zwei Tagen ist das Schlimmste überstanden.
Ich gehe zum Sonnenuntergang auf die Brücke und raus auf den Balkon auf der Steuerbordseite. Die Sonne erleuchtet ein paar Wolken am Horizont in Orange und geht als goldener Ball unter. Ich nehme mir vor, hier an Bord jeden Sonnenauf– und Untergang zu fotografieren. Heute Abend hat es sich gelohnt.
Ich stehe noch auf der Brücke und versuche die Höhe der Wellen abzuschätzen. Im Gegensatz zu den anderen Schiffen, die Pierre schon befahren hat, gibt es hier kein Messgerät für die Wellenhöhe. Der Kapitän, der mit seiner Frau wenig später auf die Brücke kommt, und der Chief Officer, der die Fahrt überwacht, schätzen eine Höhe von 3,5 m mit hohen Wellen bei 4 m.
So langsam freunde ich mich mit dem Seegang an. Bei ganz starken Schauklern merke ich, dass es meinen Körper, der ja mehr als sonst, die Muskeln beanspruchen muss, um mich aufrechtzuerhalten, anstrengt. Manchmal bekomme ich leichte Schweißausbrüche und ein Tick Übelkeit. Aber im Großen und Ganzen komme ich damit klar.
Die Lade–Crew in Antwerpen hat nicht immer so großartig gearbeitet, wie ich zuerst geglaubt habe. Bei einem der LKWs auf Deck brennt ein Licht. Es wird sicher nicht mehr lange brennen. Die Frage ist, ob das Licht abgeschaltet werden soll. Der Kapitän entscheidet sich dagegen. Das Licht beeinträchtigt nicht die Navigation in der Nacht, denn der LKW steht, von der Brücke aus gesehen, hinter einer Wand von Containern. Da will er nicht, dass jemand stundenlang einen Wust von Autoschlüsseln ausprobiert, bis der richtige gefunden ist.
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Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
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