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Ich habe mir vorgenommen, dass heute der Tag der blauflügeligen fliegenden Fische ist.
Es ist kühl in unseren Kabinen. Ich habe mir wieder etwas Langärmeliges angezogen. Für die Jagd auf fliegende Fische ist das in Ordnung. Die Sonne kann so nicht meine Arme und Beine verbrennen.
Nach dem Frühstück mache ich mir einen Kaffee in meinen Thermobecher. Vorsichtshalber packe ich auch meine rote Windjacke ein.
Ich gehe zum Bug. Das Wetter ist herrlich. Die Sonne scheint vom Himmel, das Meer ist tiefblau. Heute ist die Dünung nicht mehr so stark und der Wind ist abgeflaut. Die Wellen haben keine Schaumkronen mehr. Es ist nur noch ein wenig kühl. Ich bin froh, meine Jacke dabei zu haben.
Die fliegenden Fische sind schon aktiv. Und ich meine, dass die rotbraun geflügelten hier auch größer sind als in den vorigen Tagen. Ich knipse sie vergnügt vor mich hin. Von denen habe ich zwar schon viele Fotos, aber ich will ja meine Technik, die Koordination von linker Hand, die die Kamera führt, Auge, rechten Daumen zum Scharfstellen und rechten Zeigefinger zum Abdrücken, verbessern. Ich werde auch immer besser. Es gelingt mir, die Fische länger zu verfolgen und mehr Fotos auf dem Punkt zu schießen.
Mehrere Kindergärten von fingerlangen Fischlein stieben auf.
Die Kleinen haben ganz helle Flügel. Es gibt aber auch größere mit hellgrauen Flügeln. Sie sind nicht so geschickt wie die rotbraunen Artgenossen, aber es gelingt ihnen, auch über ein, zwei Wellenkämme zu fliegen.
Es gibt viel mehr Vögel. Während gestern noch ein Vogel so weit vom Land eine Sensation war, kommt heute immer wieder einer vorbei. Sie sind allerdings so weit entfernt, dass ich sie ohne Fernglas nicht identifizieren kann. Ein Vogel schwimmt ruhig auf dem Wasser. Er ist sehr groß und braun. Als das Schiff näherkommt, fliegt er auf. Er hat eine riesige Flügelspanne. Ich meine, dass es ein Sturmtaucher ist und mache Fotos, damit ich ihn nachher, wenn ich ihn auf den Computer geladen habe, in Ruhe identifizieren kann.
[Nachtrag: Es ist ein Corysturmtaucher]
Ich kann mich so stundenlang amüsieren. Zwischendurch mache ich mal eine Pause, trinke meinen Kaffee und schaue über die Wellen, immer in Ausschau auf etwas Größeres.
Pierre kommt um 11:00 durch die Luke. Ich kann von keinen außerordentlichen Sichtungen berichten. Fliegende Fische und Sturmtaucher. Das war’s. Ich langweile mich trotzdem nicht.
Zusammen stehen wir an der Reling, plaudern und schießen fliegende Fische ab.
Plötzlich sehe ich zwei Rückenflossen. Delfine! Sie sind ganz nahe. Sie schwimmen von links nach rechts am Bug vorbei. Wir sind ein wenig aufgeregt.
Pierre geht nach einer Weile wieder. Es ist Zeit für seinen Aperitif vor dem Mittagessen.
Ich bekomme einen Krampf in den Händen. Vor allem die linke Hand, die hauptsächlich das Gewicht der Kamera und des Objektivs trägt, tut mir weh. Nach ein paar Dehnübungen geht es besser.
Ich sehe noch eine Rückenflosse. Noch ein Delfin schwimmt vorbei. Delfine sind lustige Tiere. Natürlich bekommt man den Eindruck, da sie immer die Mimik des Lächelns haben, aber sie haben Spaß am Leben, wenn sie auf den Bugwellen der Schiffe, die ab und zu vorbeikommen, surfen.
Einmal sehe ich einen riesigen fliegenden Fisch. Die rostflügeligen heute waren ja schon groß, aber der bricht alle Rekorde. Wahrscheinlich ist er der Großvater von allen anderen. Sehr elegant und gelassen fliegt er über die Wellen, so ganz ohne Hektik und Straucheln. Er hat auch eine andere Farbe als die anderen – ein helles Gelb oder Orange oder Braun. Es gelingt mir ein paar Fotos von ihm zu machen.
Beim Mittagessen berichtet der Kapitän, dass das Kino fertig ist. Schon seit Tagen arbeiten ein paar Seeleute daran, einen Beamer und eine Leinwand im Aufenthaltsraum für die Offiziere anzubringen. Dieser Raum wird eigentlich nur genutzt, wenn einer der Offiziere oder ein Passagier seine Wäsche waschen will. Sonst sitzt da keiner. Der Raum beherbergt auch eine kleine Bibliothek, hauptsächlich polnischer Bücher. Jetzt wird er auch ein Kino – das erste der MACS–Flotte. Pierre und ich werden zur Einweihung eingeladen. Twentyhundred. Wir sagen natürlich zu.
Als ich nach dem Mittagessen zum Bugbalkon komme, sind der Kapitän und seine Frau schon da. Unsere Erzählungen von Delfinen haben sie nach vorne gelockt. Er erzählt mir, dass er, gleich am Anfang, als er an die Reling trat, ein Mola Mola, einen Sunfish, erspäht hat. Ich erinnere mich, ein Foto von diesen Tieren in seinem Two Oceans Buch gesehen zu haben und bin sehr neidisch auf seine Sichtung.
Für eine Stunde stehen wir an der Reling und fotografieren fliegende Fische und den einen oder anderen Sturmtaucher.
“Mola Mola!”, ruft der Kapitän. Ich sehe nur eine Flosse, die unter dem Bug verschwindet. Schade! Gerne hätte ich den Fisch gesehen.
Der Kapitän verabschiedet sich dann. Er muss noch arbeiten.
Meine Aufmerksamkeit gilt nicht nur den fliegenden Fischen. Immer wieder schaue ich auch weiter aufs Wasser in der Hoffnung, noch was anderes zu beobachten. Und so sehe ich auch die weiße Gischt, die nicht von einer Welle kommt. Sie ist ein paar hundert Meter weiter. Mit meinem Tele zoome ich heran. Zum elfundneunzigsten Mal auf dieser Reise bedaure ich, kein Fernglas mitgenommen haben. Ein Wal? Genauso hat es vor ein paar Tagen ausgesehen, als ich den großen Wal gesehen habe.
Es ist ein ganzer Pulk von Delfinen, die sich da drüben tummeln. Immer wieder hüpfen sie aus dem Wasser.
“Kommt her! Kommt mit der Bugwelle spielen!”, denke ich.
Sie sind aber zu weit weg. Bald verschwinden sie hinter dem Schiff.
Kurz darauf kommt Pierre. Er hat die Delfine von der Brücke aus gesehen.
Wir haben eine Diskussion, ja fast einen Zank, über die Wolken.
Vor ein paar Tagen habe ich ja festgestellt, dass die braune, schlammige Farbe, die das Meer manchmal hat, durch die Spiegelung der Wolken verursacht wird. Als ich Pierre davon erzählte, war er anderer Meinung. Die Farbe wird vom Schatten der Wolken und nur vom Schatten verursacht.
Noch am Morgen hatte er zu mir gesagt: “Du hast deine Meinung. Ich habe meine Meinung.” Ich dachte, dass wir damit das Thema beendet hatten, so unter dem Motto “We agree to disagree.” Und so wichtig war es mir dann auch nicht, mit Pierre bei dem Thema einer Meinung zu sein. Pierre will es aber doch nicht dabei beruhen lassen.
Der Streit beginnt, als wir auf tiefblaues Meer blicken. “Welch ein tolles Blau!”, sage ich.
“Ja”, sagt er. “Keine Wolken, keine Schatten, nur Blau.”
“Ja aber, wenn du da nach links schaust, hat das Meer eine braune Farbe. Das liegt an der Spiegelung der Wolken da drüben.” sage ich und zeige auf die Wolken links.
Er braust auf. “Die Farbe ist von den Schatten!”
“Welchen Schatten?”, frage ich.
Er: “Von den Wolken da rechts!”
Ich: “Schatten gibt dem Meer eine graue Farbe. Schatten macht das Meer dunkel. Da drüben ist es aber hell. Das ist von den Wolken da links. Die spiegeln sich im Wasser.”
Es kann natürlich sein, dass die Farbe von der Spiegelung der Wolken links und dem Schatten der Wolken rechts verursacht wurde. Auf jeden Fall spielt die Spiegelung auch eine Rolle.
Er sieht es anders.
“Ich lebe seit 60 Jahren an einem See. Ich kenne Wasser und Wolken. Das ist Schatten.”
Ich kann dagegen nicht argumentieren. Also gehe ich wieder zur Reling und suche fliegende Fische.
Er bleibt noch eine Weile. Als ich mich später umdrehe, ist er verschwunden.
Das Meer hat sich im Laufe des Tages verändert. Wenn man in die Ferne schaut, ist es blau. Aber wenn man nach unten guckt, da wo die Strahlen der Sonne im Wasser gebündelt werden, ist es grün.
Vom Timing her würde es passen. Wir erreichen den Benguela–Strom, der aus der Antarktis heraus an der Westküste des südlichen Afrikas hochspült. Das kalte Wasser hat einen hohen Planktongehalt, der die grüne Färbung gibt.
Mir ist schon aufgefallen, dass es am Nachmittag nicht mehr so viele fliegende Fische wie noch am Vormittag gibt. Vielleicht wird es ihnen zu kalt. Aber immer, wenn ich denke, dass ich auf dieser Reise keinen fliegenden Fisch mehr sehen werde, weil ich schon eine Viertelstunde keinen mehr erspäht habe, springen doch wieder ein paar aus dem Wasser. Meistens sind es sehr große Fische.
Im Osten steht ein zunehmender Mond. Im Westen sinkt die Sonne. Das Wasser wird dunkler.
Ich schaue auf die Uhr. Ach du meine Güte! Ich verpasse das Abendessen!
Es ist mir während des ganzen Tages nicht gelungen, einen blauflügligen fliegenden Fisch zu fotografieren.
“Fish ‘n Chips”, sage ich, als ich die Offiziersmesse betrete und das Abendessen rieche.
Es sind Chicken Nuggets mit Fritten.
Der Kapitän gibt uns zwei wichtige Informationen:
Erstens: wir werden sofort anlegen können, wenn wir Walvis Bay erreichen. D. h. Sonntag ist Ankunft.
Zweitens: in der kommenden Nacht wird die Uhr auf namibische Zeit umgestellt. Wir verlieren eine Stunde.
Ich gehe um 20:00 zum Aufenthaltsraum für Offiziere. Der Kapitän, seine Frau, Pierre und der Chief Engineer sind schon da.
Das Kino funktioniert. Ein Beamer an der Decke wirft ein Musikvideo auf eine herausziehbare Leinwand. Der Ton läuft per Bluetooth über eine Musikanlage.
Der Kapitän fragt Pierre, ob er auf seinen anderen drei Schiffsreisen schon ein Kino an Bord erlebt hätte. Nein. Ein Kino hat es auch auf den hochmodernen Containerriesen nicht gegeben.
Dann kommt der letzte Gast, der Chief Officer, der noch bis 20:00 Dienst auf der Brücke hatte. Jeder, außer die Frau des Kapitäns bekommt eine Flasche Bier. Die Show kann anfangen.
Wir schauen uns das Konzert von Simon & Garfunkel im Central Park an.
Es gibt eine kurze Diskussion, ob diese wunderschöne Musik heute noch ein Hit werden könnte, wenn sie nicht in den 70er Jahren ein Hit gewesen wäre. Der Kapitän meint, dass die Musik zeitlos ist. Ich denke, dass heute andere Musik gehört wird.
Wie immer kann ich mich nicht entscheiden, ob ich “Bridge over troubled water” oder “Sounds of Silence” schöner finde.
Schließlich noch zwei Lieder von Sadé. Schließlich erinnern wir uns, dass wir ja eine Stunde durch die Zeitumstellung verlieren werden und entscheiden uns, zu Bett zu gehen.
Pierre witzelt herum, dass ich meinen Sonnenaufgang morgen verpassen werde.
Ich schaue um 23:00 auf meine Navigationsapp. Wir liegen auf S18° 00.391′ E9° 28.464′. Die namibische Küste, die Skeleton Coast, ist 245 km von uns entfernt. Es sind noch 760 km bis nach Walvis Bay, knapp 28 Stunden.
Ich muss noch die Zeitzone in meinem Smartphone ändern, damit ich meinen Sonnenaufgang nicht verpasse.
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Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
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