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Ich bin um vier Uhr in der Frühe wach und schaue aus dem Fenster. In den letzten Nächten hatte ein solcher Blick nicht viel gebracht. Es war immer bewölkt gewesen und da alle Beleuchtung am Vorderschiff ausgeschaltet wird, gab es nichts außer Tiefschwarz zu sehen.
Heute aber funkeln Sterne. Alpha und Beta Centauri identifiziere ich als erstes und folgte ihnen bis zum Kreuz des Südens.
Ich komme meinem Zuhause immer näher.
Ich blicke nach links und sehe den Skorpion in voller Länge. Ja, wir sind tatsächlich in der südlichen Halbkugel angekommen, da, wo man in das Zentrum der Milchstraße schauen kann.
Der Sonnenaufgang ist schön, aber nicht spektakulär. Wenn es jeden Tag spektakulär wäre, wäre es ja nicht mehr spektakulär, sondern normal.
Um 14:12 liegen wir bei S8° 02.697′ W0° 28.157′.
Am heutigen Tag sind wir am weitesten von irgendeinem Festland entfernt. Aber Afrika ist immer noch der Kontinent, der uns am nächsten ist. Der nächste Ort auf afrikanischem Boden ist eine Lagune in Gabun, 1280 km entfernt.
Bald überqueren wir den Greenwich Meridian. Dann sind wir nicht nur im Süden der Weltkugel, sondern auch im Osten. Darüber machen wir nicht so viel Aufhebens, wie beim Äquator. Schließlich ist der Äquator etwas Handfestes: die Linie, die am weitesten von beiden Polen entfernt ist. Die Längengrade sind wirklich willkürlich bestimmt worden.
Ich muss meine ganze Tagesplanung umändern, da der Sonnenaufgang jetzt immer vor dem Frühstück ist. Deshalb richte ich meine Wecker neu ein. Für die Sonnenaufgangsfotos lohnt es sich, ein paar Minuten früher aufzustehen.
Am Vormittag bearbeite ich meine Fotos, am Nachmittag geht es zum Bug.
Fotoapparat 1? Check!
Fotoapparat 2? Check!
Genug Akku in beiden Fotoapparaten? Check!
Sonnenmilch? Check!
Cola? Check!
Cell Phone? Check!
Palästinenser–Piratentuch? Check!
Es kann losgehen. Zuerst gehe ich die Treppen zwei Stockwerke hoch, zur Brücke. Der Second Officer hat Dienst. Das ist der Grund warum ich vor 16:00 losgehe. Dann ist nämlich Schichtwechsel und der Chief Officer ist ja ein wenig kompliziert. Der Second und der Third Officer sind nett. Ich sage zum Second Officer, dass ich gerne zum Bug gehen möchte, wenn nichts dagegen spricht. “Have fun!” gibt er mir auf den Weg mit.
Es geht die Treppen von sechs Stockwerken runter, dann durch die eine Eingangstür auf der Steuerbordseite. Die Außentüren sind nicht ganz so einfach zu öffnen wie normale Türen. Ich muss einen Hebel von “C” nach “O” bewegen und gleichzeitig die Türklinke drücken. Ich bin draußen. Ich schiebe die Tür zu und bewege den Hebel von “O” zurück nach “C”.
Ich laufe die paar Schritte zur Treppe zum Upper Deck. Die Seeleute haben tagelang den Rost vom Deck vor dem Gebäude mit einer Flex entfernt. Eine Lage rote Untergrundfarbe wurde als nächstes aufgetragen.. Nach dem Trocknen kam noch eine Lage. Heute ist es nun so weit: Die oberste Schicht in Grau wird gerade drauf gerollt. Es handelt sich um eine Farbe aus zwei Komponenten, die am Ende, wie eine Plastikschicht auf dem Boden liegt. Diese Farbe kann ein paar Stöße ab.
Der Bosun steht am Rand des Geschehens. Ich bleibe kurz stehen und sage, dass ich die Arbeit toll finde. Es sieht wirklich super aus, jetzt wo der Rost weg ist und der Schmutz unter strahlendem Grau verschwindet. Er freut sich.
Dann gehe ich nochmal Treppen runter. Nun bin ich auf dem Upper Deck. Ich gehe an der Reling entlang, vorbei an Frachtraum 5, dann 4, dann 3, dann 2, dann 1. Der Weg ist sicher 150 m lang. Zwischen den Frachträumen gibt es Gänge. Irgendwo laufen Maschinen. Ab und zu klappert eine Kette, die die LKWs verzurrt.
Jetzt, wo ich daran denke: Das Klopfen aus dem einen Container ist verstummt. In meinen wildesten Fantasien habe ich mir ausgemalt, dass da Menschen drin sind, die unbedingt herausgelassen werden wollen. Wenn es so war, sind sie jetzt verdurstet, verhungert oder erstickt. Es klopft nicht mehr. Die Realistin in mir sagt eher, dass sich was immer im Container nicht richtig fixiert war, sich inzwischen durchs Schaukeln zurechtgerückt hat.
Je weiter ich nach vorne gehe, desto weniger höre ich die Schiffsmaschine. Dann aber wird die Bugwelle immer lauter. Ich schaue über die Reling nach vorne. Die Bugwelle ist eine ca. zwei Meter hohe Welle. Sie verwirbelt das Wasser am Rande des Schiffs in ein mit weißem Schaum durchsetztes türkisblau.
Es geht wieder Treppen hoch aufs vordere Deck. Da sind die vorderen Anker– und Seilwinden, um das Schiff an einem Dock zu vertäuen. Auch hier sitzt ein Matrose und pinselt Untergrundfarbe auf Verstrebungen. Ich grüße freundlich, er grüßt zurück.
Ich glaube, dieser Kampf der Matrosen gegen den Rost ist eine neverending Story. Wenn sie vorne anfangen und sich bis hinten durchgearbeitet haben, können sie wieder von vorne anfangen.
Ich muss ich nur noch diese fiese Leiter hoch durch die Luke zum Balkon. Dann stehe ich auf dem schräg nach vorne und zur Seite verlaufenden Dach des Vorderdecks, auf dem Bugbalkon.
Weder die Schiffsmaschine, noch die arbeitenden Seeleute sind mehr zu hören. Hier gibt es nur das Platschen, wenn der Bug durch das Wasser schneidet. Sonst ist es ganz still.
Ich hänge den einen Henkel der Tasche, in der ich alles für meinen Ausflug getragen habe über den Bügel, an den man sich festhalten kann, wenn man durch die Luke kommt. So bin ich mir sicher, dass nichts wegfliegen kann. Ich glaube, es würde auch so nichts wegfliegen, aber nun brauche ich mir keinen Kopf zu machen.
Ich creme mich schnell mit Sonnenmilch ein und tue mir das Palästinenser–Piratentuch auf den Kopf. Erst habe ich mich geärgert, dass ich keinen Hut dabeihabe, aber das Tuch ist ein sehr guter Ersatz. Ich reiße mir die Cola auf, gehe vorne an die Reling und fliege über die Wellen.
Es ist wirklich wie fliegen, wenn das Schiff mit stetigen 14 Knoten durch das Meer pflügt. Der Wind und damit die Wellen kommen von vorne und verstärken den Eindruck.
Die Wellen sind nicht sehr hoch. Es gibt nur eine leichte Dünung. Der Wind ist gerade stark genug, dass er mich in der Hitze abkühlt.
Fliegende Fische gleiten vor dem Schiff davon.
Ein aufgeregter Kindergarten von Fischen versucht sich in den ersten Flugversuchen. Sie kommen vielleicht zwei, drei Meter weit, bevor sie über eine Welle stolpern und zurück ins Meer purzeln. Die Bugwelle packt sie und schiebt sie sanft zur Seite.
Ihre größeren Artgenossen können das viel besser. Sie schaffen manchmal mehrere hundert Meter. Zwischendurch schubsen sie sich mit ihren Schwanzflossen vom Wasser ab, um noch ein Stückchen weiterzukommen. Sie stolpern auch ab und zu und fallen dann sehr unelegant wieder ins Meer. Die Sonne scheint ins Wasser und ich kann beobachten, wie sich die vogelartigen Tiere wieder in Fische verwandeln und schnell davon schwimmen.
Wie elektrisiert schaue ich auf einen fliegenden Fisch, der gerade unten vorbeifliegt. Der hat blaue Flügelflossen! Ich kannte bis jetzt nur welche mit dunkelbraunen oder rostbraunen Flügeln. Die Kindergartenfische hatten weiße. Dieser Fisch aber hatte blaue Flügel. Bald sehe ich noch einen. Ob es eine andere Art ist? Oder ob sie in der Paarungszeit die Farben wechseln?
Plötzlich steht der Bosun neben mir. Mit ihm habe ich gar nicht gerechnet. Er ist ein Bulle von einem Kerl mit kurzgeschorenen Haaren und einer Nase, die schon mehrmals gebrochen war. Aber er ist ein freundlicher Mann. Er fragt, wie lange ich denn noch hier auf dem Bug sein werde. Ich sage, dass ich bis zum Abendessen bleiben wollte. Ja, die Sache ist die: Er muss die Luke schließen. Aber es ist okay, ich kann noch bleiben. Ob der Kapitän denn auch hierherkommt? Ich sage, dass der Kapitän und seine Frau jeden Abend hier verweilen. Er schaut ein wenig unsicher. Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat. Mit der Mannschaft gibt es oft Augenblicke von Lost in Translation. Dann prüft er die Stahlseile, die den vorderen Masten sichern. Die müssen unbedingt bearbeitet werden, sagt er. Das eine, das sehe ich jetzt auch, ist ziemlich locker. Außerdem sind sie verrostet. Ich frage mich, ob die Luke geschlossen wird, weil die Seile nicht sicher und/oder erneuert werden müssen.
Für uns Gäste wäre eine verschlossene Luke eine Katastrophe. Es ist das Highlight des Tages auf den Bugbalkon zu gehen. Ich hoffe inständig, dass die Erneuerung der Stahlseile bis hinter Walvis Bay warten kann.
Wir versuchen noch eine Weile zu plaudern. Er habe gehört, dass ich aus Namibia kommen würde. Ich erzähle ihm, dass ich zwanzig Jahre in Deutschland gelebt hätte und jetzt zurück nach Namibia kehre. Er schüttelt den Kopf. “Africa …”, sagt er nur. Aus seiner Mimik entnehme ich, dass er sich nicht vorstellen kann, in Afrika zu leben. Ich sage, dass Namibia ein schönes und friedliches Land ist. Ja, aber was man so aus dem Kongo hört… Ich erkläre, dass der Kongo weit entfernt ist, weiter als was Madrid von Warschau entfernt ist. Das scheint ihn zu beruhigen. Er sagt, dass er wieder gehen muss und verschwindet durch die Luke.
Ich trinke meine Cola aus, mache die Dose platt und tue sie in die Tasche. Dann nehme ich die Kamera mit dem Teleobjektiv und stelle sie ein. Ich will unbedingt einen fliegenden Fisch mit blauen Flügeln fotografieren.
Nur kommt gerade keiner vorbei. Die mit den braunen Flügeln sehe ich zuhauf. Wir fahren durch noch einen Kindergarten, der sich in unbeholfenen Gleitversuchen übt.
Dann kommen der Kapitän und seine Frau durch die Luke. Für seine Frau gibt es eine Sitzgelegenheit: ein in Plastik eingewickeltes Kissen. Es ist noch irgendwas in dem Paket, dass es schwer macht. Wenn niemand da ist, wird es in den windgeschützten Raum hinter der offenen Luke verstaut. Nun holt er es hervor und trägt es bis vorne an die Reling. Sie setzt sich hin und schaut übers Meer, er macht seine Kamera, diesmal mit dem großen Tele, parat.
Kurz darauf kommt Pierre durch die Luke.
“Hier ist echt was los heute!”, denke ich.
Wir stehen an der Reling und unterhalten uns. Er hat auch schon die blauflügligen fliegenden Fische gesehen. Da fliegt einer vorbei, aber ich bin nicht schnell genug, ihn zu knipsen.
Natürlich heben wir immer wieder den Blick, in Ausschau auf Wale, Delfine oder Haie. Pierre meint, dass so weit draußen keine Delfine sein können. Hier ist nicht genug Futter. Ich bin anderer Meinung. An Futter mangelt es wirklich nicht. Es gibt tausende von fliegenden Fischen.
Aber wir beobachten keine Meeressäuger. Ab und zu sieht eine Welle von weiten anders aus als üblich, aber am Ende ist es doch nur eine Welle. Das ist kein Aquarium, das ist der Atlantische Ozean.
Pierre verabschiedet sich. Es ist gleich 17:00 Uhr – Zeit für seinen Aperitif.
Kurz danach geht der Kapitän und seine Frau. Es ist doch ein wenig zu windig, um fliegende Fische fotografieren können, sagt er. Wahrscheinlich wird er uns morgen beim Frühstück erzählen, dass er heute das beste FF–Foto ever geschossen hat.
Ich bin wieder allein und schaue aufs Meer.
Plötzlich kommt mir die Erleuchtung, warum das Meer manchmal von weitem eine schlammige Farbe hat. Pierre und ich hatten darüber schon eine Diskussion. Er meint, es sei der Schatten von Wolken. Ich bin anderer Meinung. Es ist auch braun, wenn gerade kein Schatten einer Wolke da ist und außerdem macht Schatten das Meer dunkelgrau, nicht braun. Ich hatte überlegt, ob es vielleicht irgendein Plankton oder eine Alge oder sowas sein könnte. Aber wenn man dann die Stelle erreichte, war im Wasser nichts Ungewöhnliches zu sehen.
Jetzt wo ich übers Meer schaue, weiß ich plötzlich, woher die braune Farbe kommt. Es ist nicht der Schatten der Wolken, sondern ihre Spiegelung. Jetzt, am Nachmittag wird das Licht wärmer, die Wolken bekommen einen leichten gelb–orangenen Ton und wenn sie sich im blauen Wasser spiegeln, bekommt das Wasser von weitem eine braune Farbe.
Jetzt, wo das Mysterium geklärt ist, und wo keine Flosse von einem Wal oder Hai zu beobachten ist, kann ich mich wieder der Fotografie von fliegenden Fischen zuwenden, aber nur welche mit rostbraunen Flügeln sind zu sehen.
Mein Smartphone läutet. Nein, hier draußen ist nun wirklich kein Empfang. Es ist der Wecker, den ich für 17:25 Uhr eingestellt habe. Ab 17:30 Uhr ist Abendessen.
Ich schaue nochmal schnell, ob nicht doch ein blauflügliger fliegender Fisch vorbeikommt. Nichts ist zu sehen. Ich packe alles in meine Tasche, klettere wieder die Leiter runter, laufe übers Vorderdeck, gehe die Treppen runter zum Upper Deck und dann an der Reling entlang zurück. Kein Matrose ist mehr unterwegs. Sie machen um 17:00 Uhr Feierabend. Das Deck vor dem Schiffsgebäude ist fertig. Es sieht richtig gut aus.
Zum Abendessen gibt es einen polnischen Kohleintopf, der sehr lecker ist. Der Kapitän ist glücklich, denn den darf er bei seiner Diät auch essen. Der Chief Engineer meint, dass zu wenig Fleisch im Eintopf ist. Darauf erwidert der Kapitän, dass es kein Fleischeintopf, sondern ein Kohleintopf ist, und nimmt sich noch eine Portion.
Ich spreche ihn wegen dem Bosun und der Luke auf dem Bug an. Er sagt, dass die Luke nur bei schwerem Wetter und im Hafen geschlossen wird. Er wird mit dem Bosun sprechen, dass sie erst am Samstag geschlossen wird. Ich bin erleichtert. Pierre freut sich auch.
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Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
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