This post is also available in: English (Englisch)
Während ich meine Sonnenaufgangsfotos auf dem Brückenbalkon mache, kommt der Third Officer und überreicht mir ein Schriftstück. Es ist das offizielle Dokument, das belegt, dass ich gestern den Äquator überquert habe. Der Kapitän hat sich viel Mühe gegeben und es auf der Rückseite einer alten Seekarte gedruckt.
Ich habe sogar einen Taufnamen bekommen, obwohl es (zum Glück!) keine Äquatortaufe gab. Salmacoma Litoralis. Natürlich schlage ich diesen Namen in dem Bestimmungsbuch für Meerestiere des südlichen Afrikas nach. Salmacoma Litoralis ist eine kleine Muschel.
Heute hat Pierre Geburtstag. Er wird 69 Jahre alt. Wenn man ihn so sieht, wie fit er ist, dann würde ich sagen: siebzig ist das neue fünfzig.
Sonst ist der Tag unspektakulär. Wir befinden uns weit weg vom nächsten Festland. Unter uns liegen über 4000 m Wasser. Während des Tages ist der Himmel einfach nur blau. Das Meer ist auch blau: ein dunkles Tintenblau. Es gibt kaum Dünung, aber einen scharfen Wind von vorne, der das Wasser kräuselt. Es ist tropisch schwül–heiß.
Die meiste Zeit des Tages bleibe ich in meiner Kabine und sortiere Fotos. Ab und zu schaue ich aus dem Fenster, ob es irgendwas Spannendes zu beobachten gibt. Aber ich sehe keine Gischt von einem platschenden Walfisch und auch keine Fontäne. Der Second Officer hat heute früh ein paar Delfine gesichtet.
Zum Mittagessen spendiert der Kapitän dem Geburtstagskind eine Flasche Wein, einen Merlot aus Südafrika. Pierres Winzerherz schlägt höher: auf seinem Weinberg hat er auch Merlot–Trauben. Wir unterhalten uns über Wein und Weinbau. Der Kapitän, seine Frau und ich wissen jetzt, dass Bordeaux–Wein immer eine Mischung aus Merlot und Cabernet Sauvignon und Burgunder immer Pinot Noir ist.
Die zwei Gläser Wein schlagen in meinen Kopf ein. Nach dem Essen mache ich erstmal ein Mittagsschläfchen.
Am Nachmittag ist immer noch nichts los auf dem Ozean. Ich mache mit meinen Bildern weiter. Ich gehe um kurz vor 16:00 auf die Brücke und schaue übers Meer. Es gibt immer noch keinen Wal oder Delfin zu sehen. Nur ein paar fliegende Fische huschen der Bugwelle davon.
Pierre kommt dazu. Er schaut auch übers Meer. Dann lädt er mich für 17:00 auf einen Aperitif in seiner Kabine ein. Er hat schon mehrmals gesagt, dass ich zu einem Gin Tonic vorbeikommen könnte, aber meistens ist es eine Uhrzeit, in der ich mich am Bug des Schiffes befinde. Aber heute ist sein Geburtstag und er lädt mich ausdrücklich nochmal ein. Ich sage zu.
Pünktlich um 17:00 klopfe ich bei ihm an. Er freut sich und mixt uns Gin Tonics, und zwar heftige. Nicht zwei Finger breit Gin. Irgendwo zwischen ein Drittel und der Hälfte des Glases hört er auf Bombay Sapphire zu schütten. Dazu tut er ein bisschen Zitronensaft und füllt mit Tonic Water auf. Wir sind in den Tropen, da ist Gin Tonic Pflicht. Er hat auch Eisklötzchen aus dem Kühlschrank im Offiziers–Aufenthaltsraum geholt. Unsere kleinen Kühlschränke schaffen keine Eiswürfel.
Wir unterhalten uns über den schäbigen Zustand unserer Kabinen. Ich kann mich nicht wirklich beschweren. Ja, der Teppich könnte mal erneuert werden, aber er ist noch erträglich. Ganz anders bei Pierre, der in der Owner’s Cabin wohnt. Sowohl der Teppich als auch die Sitzpolster sind unappetitlich verschmutzt. Wenn der Eigentümer des Schiffes seine Räumlichkeiten mal nutzen wollte, wäre er sicher nicht davon angetan. Die Bright Sky wurde zwar letztes Jahr generalüberholt, aber bei den Kabinen hat man wohl gespart.
Pierre schenkt uns noch einen Gin Tonic ein. Ich proste ihm zu. Möge er noch ein langes Leben mit vielen Reisen und Abenteuer haben. Pierre sagt, dass das seine letzte Schiffsreise war. Er hat sich seine Träume diesbezüglich erfüllt. In Zukunft möchte er mit seiner Frau gemeinsam reisen. Er erzählt mir von seinen skandinavischen Plänen. Pierre war zwar schon in 106 Ländern, kennt aber Skandinavien gar nicht. Bis jetzt konnte er immer nur im Januar bis März reisen und er wollte nicht im Winter in den Norden. Nun ist er im Ruhestand und kann auch mal im Sommer Urlaub machen. Island ist als erstes geplant.
Es ist Zeit fürs Abendessen. Ich merke die beiden Gin Tonics. Oder schwankt das Schiff heute mehr als sonst?
Der Koch hat wieder Pizza gemacht. Schon zur Frühstückszeit wurde der Teig zubereitet. Sie hat einen dicken Boden und ist mit Krakauer belegt. Polnische Pizza halt, aber sehr lecker.
Nach dem Abendessen gehen Pierre und ich zum Bug des Schiffes. Es ist so friedlich dort. Die Wellen sind zahm und die fliegenden Fische schweben nach allen Seiten davon. Heute fotografieren wir aber nicht; wir gucken nur.
Dann geht Pierre zurück. Ich bleibe noch und schaue der untergehenden Sonne zu. Die Sonne und die Wolken und das Meer geben heute mal wieder ihr Bestes.
Als ich zurückkomme, finde ich Pierre auf dem Außendeck von Deck D. Er trinkt noch ein Bier und schaut zurück, über die Spur vom dem vom Schiff gebrochenen Wassers, in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Er sagt, dass er zurück über sein Leben nachdenkt, aber auch vorwärts an das, was noch kommt. Ich sage, dass da wohl noch eine Weile was kommen wird.
Wir sprechen beide nicht darüber, dass das Schiff irgendwann an sein Ziel ankommt und in einen Hafen einläuft. Noch sind wir auf der Reise.
Seit gestern merke ich, dass ich mich jetzt mehr der Zukunft, der Zeit nach dem Schiff zuwende. Der Äquator ist vielleicht nur eine imaginäre Linie, aber ich bin jetzt auf der Seite des Erdballs, wo meine Zukunft, mein nächster Lebensabschnitt auf mich wartet. Die nördliche Halbkugel, auf der ich die letzten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht habe, liegt hinter mir, ist Vergangenheit. Ich komme meiner Zukunft immer näher.
Ich schaue um 20:00 Uhr auf meine Navigationsapp.
Wir befinden uns auf S4° 48.180′ W3° 53.054′.
Wir sind so weit wie noch nie während unserer Reise von Land entfernt. Aber Namibia kommt immer näher. Wir liegen schon auf dem Breitengrad von Angolas nördlichster Provinz, Cabinda (1726 km von uns entfernt), fast auf der Höhe von der Mündung von Afrikas zweitgrößtem Fluss, dem Kongo. Zwar ist Ghana in Westafrika mit 1072 km noch näher, aber Namibia kommt in einem konstanten Tempo von 14 Knoten auf uns zu.
Möchtest du eine Übersicht aller Beiträge zu meiner Reise auf dem Frachtschiff Bright Sky sehen? Hier geht es zu einem Inhaltsverzeichnis.
Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
Günter Hupfer says
Hallo Anette,
sehr stimmungsvoller Beitrag, toll geschrieben.
Viele Grüße
Günter Hupfer
Anette says
Vielen Dank!