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Ein Vormittag auf der Brücke
Nach dem Frühstück fragt Robert, ob er ab 10:00 Uhr bei mir das Bett neu beziehen und putzen könnte. Also plane ich, den späten Vormittag am Bug des Schiffes zu verbringen.
Aber als ich hochgehe, um mich abzumelden, regnet es. Ich entscheide mich, oben auf der Brücke zu bleiben. Der Kapitän hat ein paar Bücher zu Vögeln und Meereslebewesen ausgelegt. Ich suche “meinen” Wal, den ich schon zweimal gesichtet hatte, der der etwa doppelt so groß wie ein Delfin ist, und bei dem die Rückenflosse sehr weit hinten auf dem Rücken ist. Ich werde nicht fündig. Auch bei den Haien gibt es keinen solchen Fisch. Die Bücher sind aber über Tiere des südlichen Afrikas. Vielleicht kommt mein Wal auf der südlichen Halbkugel nicht vor. Das muss warten, bis ich wieder online gehen kann.
[Nachtrag: “Meine” Wale sind Zwergwale, auch bekannt als Minkwale, gewesen.]
Das Meer ist nie langweilig.
An einem Tag wie heute, mit Wolken und Regen, verändert es sich ständig im Spiel von Licht und Schatten. Der Wind ist ein wenig stärker und kommt von vorne. Es gibt kleine Wellen mit Gischt.
Als es regnet, spannt sich ein Regenbogen über den Ozean. Es gibt nichts, was die Sicht behindert – ich kann den ganzen Halbkreis über dem Wasser schwebend sehen.
Ich verbringe den Vormittag auf der Brücke, schaue aufs Meer und auf die Wolken oder blättere in den Bestimmungsbüchern. Oft stehe ich auf einem der Balkone. Dort gibt es kleine Schattendächer und, weil ein Wind weht, es ist kühler dort als auf der Brücke.
Ein Vogel fliegt über die Wellen. Es ist ein Vogel, kein fliegender Fisch, denn fliegende Fische schaffen nur ein paar hundert Meter. Ich hole eins der Ferngläser, die auf der Brücke herumliegen. Der Vogel ist weg.
Dann fällt mir, ein paar hundert Meter vor uns, auf der Steuerbordseite, ein großer weißer Gischtfleck auf. Das ist keine Welle, das ist etwas anderes. Ich hebe das Fernglas, um mir den weißen Fleck näher anzuschauen und just in dem Moment, als ich durchschaue, springt ein riesiger Wal senkrecht aus dem Wasser. Sein ganzer Körper schwebt in der Luft. Dann fällt er mit einem großen Platsch! wieder ins Meer zurück.
Das Tier ist riesig! Aufgeregt sage ich dem Third Officer, der gerade Dienst auf der Brücke hat, Bescheid. Sein erster Griff geht zum Telefon. Der Kapitän hat ja einen höchst offiziellen Befehl erteilt, dass er bei solchen Sichtungen sofort benachrichtigt werden muss.
Danach nimmt sich der Third Officer auch ein Fernglas und wir schauen beide hin. Der Wal springt nochmal, ein anderes Mal sehen wir die Fluke.
Schließlich kommt unser Schiff dem Tier wohl zu nahe. Der Wal springt nicht mehr aus dem Wasser. Ab und zu sehen wir den Rücken und die Fontäne.
Der Kapitän und seine Frau kommen auf die Brücke. Er ist mit Kamera und seinem großen Teleobjektiv bewaffnet. Auch ich habe meine Kamera mit Teleobjektiv dabei und möchte wenigstens die Fontäne fotografieren, aber das ist sehr schwierig. Das Schiff bewegt sich vorwärts, der Wal in eine andere Richtung. Das macht das Zielen unmöglich. Bis ich die Fontäne im Sucher habe, ist der Zauber schon wieder vorbei. Dennoch ist mir ein einziges Foto gelungen, dass den Rücken des Wals und seine Fontäne zeigt.
Egal. Das Erleben eines solchen Tieres und die Erinnerung daran ist wichtiger als die Dokumentation eines solchen Ereignisses. Ich habe einen riesigen Wal gesehen, der senkrecht aus dem Wasser gesprungen ist und mit einem großen Platsch wieder in den Ozean zurückgefallen ist.
Äquator
Ich weiß jetzt, wie Müll in den Ozean kommt. Matrosen werfen ihn über Bord. Natürlich gibt es sehr viel größere Übeltäter, als unsere Crew, aber sie tragen ihren Teil dazu bei.
Während ich auf dem Balkon der Brücke stehe und warte, dass wir den Äquator erreichen, sehe ich, wie Müll über Bord geworfen wird. Erst kann ich nicht ausmachen, wer es ist, dann sehe ich den Mann: Es ist der Bosun himself. Platsch – etwas was schnell untergeht. Platsch – ein Ratscheband, welches noch eine Weile auf den Wellen treibt. Er ist gerade dabei weißes Material zusammenzuknäueln, als er sieht, dass ich ihn sehe. Er hält inne und geht zur anderen Seite des Schiffes.
Später erzähle ich Pierre davon. Er meint, dass es wahrscheinlich schwere Dinge waren, wie Stahl. Das geht sofort unter. Und auf dem Meeresboden stört es nichts und niemand. Das sagt Pierre, der sich gestern noch über die Wanderer in den Alpen aufgeregt hat, die volle Dosen im Rucksack mitschleppen und leere Dosen einfach liegen lassen.
Stahlstücke und auch Holz würde ich noch durchgehen lassen. Die kommen aus der Natur und können zur Natur zurückkehren.
Es waren schwere Dinge darunter, aber halt auch alte Ratschebänder aus orangen Nylon. Und Plastikteile.
Man kann sich die Welt auch schönreden. Schwerer Müll im Ozean stört nicht, wenn man schöne Bilder machen will.
Dann ist es so weit. Gebannt verfolgen wir auf dem Navigationsgerät unsere Bahn. Der Äquator ist erreicht.
Wir überqueren den Äquator um 16:05:42. Ich kann das so genau sagen, weil ich ein Foto vom GPS des Schiffes gemacht habe. Es zeigt 0°00.000 N 8°09.080 W.
Vorher hat der Kapitän uns gesagt, dass es keinen Rumms geben wird, wenn wir auf dem Äquator sind. Dennoch sind er und seine Frau auch auf der Brücke als alle Zahlen des Breitengrades eine Null zeigen.
Das Meer südlich des Äquators sieht genauso aus, wie nördlich. Heute ist es ein wunderschönes tiefes Blau.
Pierre und ich stehen noch eine Weile auf der Brücke und schauen, wie wir immer weiter nach Süden fahren. Er will mir was auf dem Navigationsgerät zeigen und beugt sich nach vorne. Der Chief Officer, der gerade Dienst hat, spricht in scharf an. Wir sollen von den Instrumenten wegbleiben! Wenn wir einen Hebel berühren, könnte es desaströse Folgen haben. Und überhaupt dürfen wir nur auf die Brücke, weil der Kapitän es erlaubt habe. Auf einem Passagierschiff dürften wir das nicht und wenn es nach ihm ginge, wäre die Brücke off–limits für uns.
Huch!
Der Chief Officer ist nach dem Kapitän der zweithöchste Rang an Bord. Er ist ein junger, schlanker Mann mit bunt–tätowierten Armen, blond und er hat einen leichten Überbiss. Wenn man ihn eine Weile beobachtet hat, weiß man, dass er eines Tages Kapitän werden möchte. Er ist ein verantwortungsvoller junger Mann, der hart arbeitet. Aber für die Kapitänswürde braucht er noch ein paar soft Skills und ich hoffe, dass er sie erlernt, bevor er diesen Rang erreicht.
Sonst ist er während seiner Nachmittagsschicht auf der Brücke immer allein. Vielleicht haben ihn die vielen Passagiere (Pierre, die Frau des Kapitäns und ich) während der Äquatorüberquerung genervt.
Pierre und ich schauen betreten, sagen, dass wir das mit den Instrumenten verstehen und dass es schlimme Folgen haben könnte, wenn wir was berühren würden und dass es uns leidtut.
Wir fangen gar nicht an zu diskutieren. Er hat ja recht. Nur seine Art und sein Ton stößt auf.
Wir melden uns ab. Wir wollen nach vorne, zum Bug des Schiffes. Eigentlich will er uns nicht dahin gehen lassen. Es wird auf dem Schiff gearbeitet und uns könnte irgendwas Schweres auf dem Kopf fallen. Wir versprechen, gut aufzupassen.
Auf dem Weg zum Bug treffen wir keinen einzigen arbeitenden Matrosen.
Ich frage Pierre, ob er denn den Hebel oder irgendwas berührt hat. Nein, er hat sich nur nach vorne gebeugt, weil er dann ohne Brille das Navigationsgerät lesen kann.
Ich überlege, ob man das Schiff so einfach in Gefahr bringen könnte. Da gibt es doch bestimmt Sicherheitsmechanismen, damit, falls jemand bei schwerem Seegang ins Taumeln kommt und aus Versehen den Hebel betätigt, das Schlimmste vermieden werden kann. Pierre meint, dass wenn man die Hebel für den Ballast betätigen würde, schon was passieren könnte – allerdings auch nicht gleich eine Katastrophe, vor allem, wenn sofort etwas dagegen unternommen wird. Aber er war nicht dem Hebel für Ballast zu nahegekommen, sondern einen, den man nur betätigen kann, wenn das Schiff im manuellen Modus gesteuert wird. Wir sind schon seit Tagen auf Autopiloten.
Egal, jetzt stehen wir vorne auf dem Bug und beobachten mal wieder fliegende Fische. Dann geht Pierre, um seinen Aperitif vor dem Abendessen zu zelebrieren.
Kaum ist er weg, fliegt ein großer Vogel vorbei. Es gelingt mir, ein Foto zu schießen. Es ist nicht besonders schön, sondern eher ein Beweisfoto. Nein, kein Beweisfoto für den Fall, dass Pierre mal wieder meint, dass es hier keine Vögel geben könnte, sondern ein Beweisfoto für mich. Später identifiziere ich den Vogel als Großen Sturmtaucher. Es ist ein weiterer Eintrag auf meiner Lebensliste von gesehenen Vögeln.
Gewitter
Es ist kurz vor 20:00 Uhr. Ich habe, wie jeden Abend, ein Date mit dem Sonnenuntergang und gehe hoch auf den Brückenbalkon auf der Steuerbordseite.
Eine gewaltige Gewitterwolke kommt von vorne, aus Süden, angerollt. Ein dichter Vorhang aus Regen fällt aus ihnen heraus. Der Horizont verschwindet hinter dem Regen.
Dem Gewitter geht ein starker Wind voraus. Er wirbelt das Meer auf. Die Wellen haben weiße Gischtkronen.
Im Westen ist es noch klar. Die untergehende Sonne steht als oranger Ball am Himmel. Sie lässt das Meer kupfern leuchten.
Wir fahren durch einen linken Ausläufer des Gewitters. Schwere Tropfen fallen. Ich stehe zwar unter dem Dach des Brückenbalkons, aber der Wind von vorne ist so stark, dass die Regentropfen fast waagerecht fliegen.
Ich hoffe inständig, dass Panasonic sein Versprechen hält, dass die Kamera spritzwassergeschützt ist, denn dieses Naturschauspiel will ich erleben. Mir ist es egal, dass ich nass werde. Es ist so warm wie in einer Waschküche.
Die Gewitterwolke und der Regen, der aus ihr fällt, zieht an uns vorbei und schiebt sich vor die Sonne. Nun leuchtet der Regen orange. Der Schatten, den die Wolke auf das Meer wirft, ist ein dunkles, fast schwarzes Grau.
Etwas weiter im Süden steht eine weitere regnende Gewitterwolke. Ihr Regen ist blaugrau.
Auch auf der Nordseite regnet eine Gewitterwolke dunkelgrau ab.
Ich höre Donner in den Wolken beben, sehe aber keine Blitze.
Es ist ein gewaltiges Naturschauspiel.
Ich fühle mich sehr lebendig in diesem Aufeinandertreffen von Wolken, Regen, Meer und dem orangen Licht der Sonne hinter all dem.
Ich sehe die Sonne nicht – zu dicht ist der Regen. Aber sie muss langsam untergehen, denn der orange Regen wird immer dunkler, immer grauer.
Der Chief Officer, den ich durch das Fenster auf der Brücke sehe, blättert durch ein paar Papiere. Er bekommt von dem was hier draußen geschieht nichts mit. Oder es ist nur noch Routine für ihn. Sonnenuntergänge interessieren ihn nicht.
Er tut mir leid.
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Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
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