Kraainester
Die Hauptbeschäftigung der meisten Namibier am Meer ist Angeln. Da die Brandung oft wild ist, hat Angeln an der Küste nicht viel mit Angeln an einem See oder Fluss zu tun. Der Köder muss 30 oder mehr Meter über die erste Brandungswelle hinübergeworfen werden. Dazu braucht es eine fünf Meter lange und sehr starke Angelrute aus Glasfiber. Unten an der Angel wird die Rolle befestigt und die Angelschnur wird durch Ösen am Stock geführt. Am Ende der Schnur kommt ein Senker aus Blei, der je nach Gegebenheiten des Angelplatzes (Sand oder Felsen), eine andere Form hat. Ein paar Zentimeter über dem Senker werden zwei Schlaufen geknotet. An jeder Schlaufe kommt ein Angelhaken und an den Angelhaken der Fischköder. Ein Stück Pilchard ist immer ein guter Köder, aber auch Muschel, Tintenfisch oder Garnelen werden gerne benutzt. Um den Köder kommt noch ein bisschen Gummischnur, damit er nicht vom Haken rutscht.
Wenn die Angel so vorbereitet ist, muss der Angler die Kunst beherrschen, den Senker und die Haken über die Brandung zu werfen. Wenn er es nicht kann, verwirrt sich die Schnur in einen dicken Knoten und der Köder schafft es nicht ins Wasser. Diesen großen Knoten nennen die Angler „Kraaines“ – Krähennest.
Geduldige Menschen entwirren das Krähennest, damit sie die Angelschnur weiterhin benutzen können. Aber das dauert Zeit, Zeit in der garantiert der größte Fisch des Tages vorbeischwimmt und nicht gefangen werden kann. Darum wird das Kraaines oft einfach abgeschnitten.
Vor allem bei Felsen und vor allem bei Felsen, die mit Seetang bewachsen sind, kommt es immer wieder vor, dass der Senker und die Haken festsitzen. Die Angler versuchen meistens, die Schnur wieder loszubekommen, aber manchmal geht es einfach nicht und auch dann wird die Schnur abgeschnitten. Manchmal haben die Angler auch einen Fisch am Haken, der stärker ist, als die Schnur es aushalten kann. Dann reißt die Schnur und Fisch, Senker, Haken und Schnur sind weg.
Aber irgendwann spukt das Meer alles wieder raus und dann findet man ein Kraaines am Strand. Wenn man Glück hat, ist noch ein Senker dran, der weiterverwendet werden kann. Das Schlimme von den Kraainestern ist, dass aber oft auch noch Haken mit oder ohne Köder dran sind. Und wenn es ganz schlimm ist, besteht das ganze aus zehn oder mehr Metern Nylon-Angelschnur. Wenn noch Köder an den Haken ist, landen sie manchmal in den Mägen von Schakalen, Robben oder Möwen, die dann elendig verrecken. Auch die Schnur hat schon ein oder anderer Robbe oder Möwe das Leben gekostet.
Bei meinem ersten Strandspaziergang finde ich ein Kraaines aus drei verschiedenen Angelschnüren. Zwei Senker sind drin versteckt und vier Angelhaken sind noch dran. Die Senker habe ich mit meinem Taschenmesser abgeschnitten, den Rest in der nächsten Mülltonne entsorgt. An einem anderen Tag finde ich drei große Kraainester mit insgesamt 14 Senkern auf einem Spaziergang.
Skeleton Coast
Ganz in der Nähe unserer Zelte hat jemand eine etwa 2,5 Meter lange Walrippe abgelegt. Sie, und die vielen Knochen von Robben am Strand erinnern uns immer wieder, dass wir uns an der Skeleton Coast befinden.
Viele Küste auf unserer Erde haben Namen: Elfenbeinküste, Goldküste, Cote d’Azur. Diese Namen versprechen Reichtum oder zumindest das süße Leben.
Ganz anders ist es mit unserer Küste, der Skelettküste. Der Name dient als abschreckende Warnung: Bleibt weg! Hier lauert der Tod!
Der Name ist Programm. Die Küste ist stürmisch, die Benguelaströmung stark. Felsen und Sandbänke lauern unter der Wasseroberfläche. Viele Schiffe, die der Küste zu nahe kamen, wurden von ihr ergriffen und kamen nicht mehr los. Die Menschen retteten sich an Land und standen am Rand der Namib. 80 bis 100 Kilometer Wüste: Felsen, Schotter oder Sand, aber kein Wasser. Die, die sich vor dem Tod des Ertrinkens gerettet wähnten, mussten den Tod des Verdurstens konfrontieren.
Es gibt menschliche Skelette an unserer Küste, aber die Skelette, die der Küste ihren Namen geben, sind eher tierischer Natur. Skelette gibt es überall: sehr viele Robben in unterschiedlichen Graden der Verwesung, aber auch tote Vögel und Knochen von Walen oder Delfinen können gefunden werden.
Der tote Wal
1 km nördlich von Meile 100, so hatte Heikos Kollege gesagt, liegt ein toter Wal am Strand.
Unser Leben wird zurzeit nicht von der Uhr, sondern von den Gezeiten bestimmt. Mit einer Frequenz von sechs Stunden und 15 Minuten wechselt das Meer zwischen Ebbe und Flut. Ebbe und ein paar Stunden davor und danach ist gut. Dann können wir gemütlich am Strand entlang gehen. Wenn das Meer näher an der Flut ist, so lehrt es die Erfahrung, ist die Chance, Fische zu fangen besser. Schwimmen im Meer ist auch zwischen den Gezeiten am besten. Bei Flut ist das Meer zu rau, die Brecher schieben ihre Wellen mit Gewalt über den ganzen Strand. Fürs Schwimmen, Angeln und Spazierengehen ist die Flut nicht geeignet.
Wenn man mit dem Auto am Strand fahren möchte, ist Ebbe auch die beste Zeit. Dann kann man auf dem harten nassen Sand fahren, ohne von einer Welle erfasst zu werden.
Wir nehmen uns vor, den Wal zu suchen. Die Luft wird aus den Reifen gelassen, Allrad wird eingeschaltet und los geht es, nach Süden, Richtung Meile 100. Wir können für eine Weile direkt am Wasser fahren, aber dann wird der Strand zu schräg und wir fahren hoch, über die Hochwasserlinie. Dort ist der Sand aber dicker und das Auto muss sich mehr anstrengen.
Der Weg führt weg vom Meer, an einer Salzpfanne entlang. Ab und zu sehen wir große Holzpfähle am Strand. Das sind Angelstellen: Adri se Gat, Bakleigat, Predikant se Gat. Von den Pfählen führt immer ein mehr oder wenig befestigter Weg zur C34.
Schließlich stehen wir am Pfahl von Meile 100. Wir haben keinen Wal gesehen. Vielleicht waren wir zu weit vom Strand weg gewesen? Wir lesen nochmal die Notiz von Heikos Kollegen: 1 km nördlich von Meile 100, am Strand… Wir fahren wieder am Strand entlang. 1 Kilometer, 2 Kilometer.
Vielleicht ist der Walkadaver inzwischen von der Springflut von vor ein paar Tagen weggespült worden? Wir kehren wieder um, in Richtung Süden. Der nächste geplante Stopp ist Horingbaai, 10 Kilometer weiter südlich.
Auf dem Weg zurück nach Meile 100 sehen wir dann den Walkadaver. Beim ersten Mal waren wir zu weit vom Strand entfernt gewesen, beim zweiten Mal zu nah am Strand. Es gibt aber auch nicht viel zu sehen. Der Wal ist fast komplett mit Sand zugeweht.
Der Wal liegt etwa 50 Meter vom Wasser entfernt. Er ist riesig. Wie war ein so großes Tier so weit vom Strand gespült worden? Allerdings ist der Anblick nicht sehr schön. Ein großer Teil des Tieres ist verwest oder vertrocknet, aber der Abbauprozess von Haut, Muskeln und Organen ist noch nicht so weit fortgeschritten, als dass man die Knochen hätte sehen können. Einzig eine Flosse zeigt die Knochen, die jedes Säugetier in der einen oder anderen Form in seiner Hand hat.
Wir fahren weiter nach Süden und passieren wieder Meile 100. Mal fahren wir direkt auf den Strand, mal im losen Sand oberhalb der Hochwasserlinie, mal weiter im Landesinneren über Salzpfannen. Alle Angelplätze sind verlassen. Die Ferien sind vorbei, nur wenige haben den Luxus an einem Dienstag so weit entfernt von der Zivilisation angeln zu können.
Bei Horingbaai sieht es dann ganz anders aus. Schon von weitem können wir etwa zehn Pick-Ups sehen. Am Strand stehen die Angler. Wenn so viele Angler an einer Stelle stehen, dann beißt dort meistens der Fisch.
Zurück fahren wir über die Straße. Der Anblick der Angler hat Heiko inspiriert. Er kramt seine Angel heraus und steht jetzt hier, an unserem Strand bei Meile 108 und angelt. Bis jetzt ohne Erfolg, aber Angeln, so hat uns unser Vater gelehrt, ist mehr als nur einen Fisch aus dem Wasser ziehen. Das Warten, die Geduld gehört dazu.
- Meile 108 – Teil 1
- Meile 108 – Teil 2
- Meile 108 – Teil 3
- Meile 108 – Teil 4
- Meile 108 – Teil 5
- Meile 108 – Teil 6 – Messumkrater
- Meile 108 – Teil 7 – Mineralienroute
- Meile 108 – Teil 8 – Cape Cross
- Meile 108 – Teil 9
- Meile 108 – Teil 10
Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
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