Treibgut
Jeden Tag gehe ich mindestens einmal, bei Ebbe, am Strand spazieren.
Zweimal am Tag macht die Flut tabula rasa auf dem Strand. Jedesmal ist alles neu. Dort, wo gestern noch ganz viele Muscheln lagen, ist heute nur der feine graubraune Sand. Dort, wo gestern nur Kies war, ist heute alles mit Muschel- und Schneckengehäusen, Panzern von Krebsen und Seegras bedeckt.
Jeden Tag gibt es etwas Neues zu entdecken.
Ich bin immer wie folgt bewaffnet: Fernglas und Vogelbuch, Fotoapparat und in der Hosentasche ein Taschenmesser. Das Fernglas und Vogelbuch brauche ich zum birden, mit dem Fotoapparat fotografiere ich das Treibgut und mit dem Taschenmesser nehme ich die Kraainester (darüber später mehr) auseinander um Senker und Angelhaken zu finden.
An einem Tag gehe ich nach Süden bis Meile 106, am anderen Tag nach Norden bis zu einer kleinen Bucht.
Da ich barfuß im weichen Sand am Strand laufe, bekomme ich in den ersten Tagen extremen Muskelkater. Dabei bin ich fit und habe gerade vor ein paar Tagen mehr als 10 km gelaufen ohne Schmerzen zu haben. Aber hier braucht es eine Weile, bis sich meine Gelenke, Sehnen und Muskeln an den weichen Sand gewöhnt haben.
Die Küste hier sieht aus wie Sandstrand, aber bei Ebbe merke ich, dass unter dem Sand Felsen sind. Im Meer sind sie von Sand befreit. Diese Art von Strand ist ideal: einerseits kann ich barfuß auf dem Sand laufen, anderseits leben in den Felsen viele Tiere und Pflanzen, die, lebendig oder tot, von der Brandung an den Strand gespült werden.
Die Muschelart, die hier am meisten vorkommt, sind Schwarzmuscheln, die man in Deutschland „Miesmuschel“ nennt. Ich merke bald, dass es mindestens zwei Arten gibt: die blauen und die braunen Schwarzmuscheln. Beide werden von Anglern als Köder geschätzt. Wenn die Schwarzmuscheln groß werden, reibt die Brandung und der Sand die äußerste blaue oder braune Schicht ab und das blanke Perlmutt ist zu sehen. Diese Muscheln dienen auch anderen Lebewesen als Ankerpunkt. Viele sind mit Tang, Seegras oder Entenmuscheln bedeckt.
Dann gibt es viele Schalen von Weißmuscheln. Diese Muscheln leben, nicht wie die Schwarzmuscheln auf den Felsen, sondern im Sand, der von der Brandung nass gehalten wird. Es gibt sie in verschiedenen Farben. Am schönsten ist die rosa Variante.
Ich finde oft eine gelbbraune Muschelart, die ich einfach „Plattmuschel“ nenne. Sie leben gerne in Gruppen eng beieinander bzw. übereinander.
Ich sehe auch viele Schneckengehäuse. Es gibt die spitzen hellen, die etwas kantigeren braunen und ganz große Schneckengehäuse, die von außen uninteressant sind, aber die innen knall-orange gefärbt sind.
Es gibt auch etwa daumennagelgroße runde Schnecken, in Pink, Lila oder Orange.
Bei Ebbe kann ich die Felsen im Wasser genauer untersuchen. Sie sind bedeckt von Entenmuscheln, die keine Muscheln, sondern eine Krebsart sind. Dazwischen leben andere Muscheln.
In den Pools zwischen den Felsen finde ich Seeanemonen. Diese Lebewesen haben sich mit Muschelsand getarnt.
Immer wieder sehe ich die Vettern der Seeanemonen, die Seesterne. Auch hier werden die toten Tiere an Land geschwemmt. Die braun gesprenkelte Oberseite ist schöner, die Unterseite ist interessanter.
Oft finde ich ganze Bündel von Schnecken und Muscheln, die zusammen in einem Stück Seegras oder Tang leben.
Hin und wieder entdecke ich die blaue Blase einer portugiesischen Galeere. Bei diesen Tieren bleibe ich respektvoll auf Abstand, um nicht mit ihren Nesselarmen in Berührung zu kommen.
Schließlich finde ich noch orange Quallen, die die Konsistenz von Wackelpudding haben.
Andere Quallen sind hell und durchsichtig.
Ganz selten sehe ich ein Haifischei. Anita ist davon überzeugt, dass sie, wie die Sternschnuppen, Glück bringen und wünscht sich bei jedem Fund etwas. Wie bei Sternschnuppen verrät sie nicht, was sie sich wünscht, weil nur so der Wunsch auch in Erfüllung geht.
Ganz selten finde ich ein komisches Lebewesen, bei dem ich gar nicht weiß, wo ich anfangen sollte, um es zu identifizieren. Rundlich und so groß wie ein kleines Hühnerei, ist es schwarz-grau auf weißen Untergrund gesprenkelt. Ist es eine Art dicker Wurm? Es hat zwei Öffnungen, aber welche vorne und welche hinten ist, weiß ich nicht. Später lerne ich, dass es sich um eine Seegurke handelt.
Es gibt erstaunlich viele Schmetterlinge und Motten am Strand. In diesem Jahr haben wir in Namibia eine gute Regenzeit und die Schwärme der Insekten sind uns schon im Inland aufgefallen. Die Motten waren nachts eine wahre Plage. Ich hätte aber nie gedacht, dass es sie auch an der Küste gibt. Die meisten sind tot und werden von der Brandung an Land gespült. Hin und wieder sehe ich aber auch ein paar Schmetterlinge herumfliegen.
Es müssen viele Krebse und Langusten in den Felsen unter Wasser leben, denn ich finde viele Überreste dieser Tiere auf dem Strand: seien es die Rückenpanzer, seien es Krebszangen oder die Bauchpanzer. Manchmal werden ganze Tiere auf den Strand gespült. Auch hier gibt es mehrere Arten; am meisten kommt eine ziegelsteinrote Art mit sieben hellen Punkten auf dem Rückenpanzer vor.
Wenn es nicht Tiere oder Pflanzen oder deren sterblichen Überreste sind, ziehen immer wieder Steine in allen Farben und Texturen meine Aufmerksamkeit auf sich.
So laufe ich jeden Tag fast zwei Stunden den Strand entlang und schaue, was das Meer ausgespuckt hat. Ich habe inzwischen eine Strategie, die mich davor bewahrt, die schönsten Muscheln, Schnecken und Steine mitzunehmen: Ich fotografiere sie.
- Meile 108 – Teil 1
- Meile 108 – Teil 2
- Meile 108 – Teil 3
- Meile 108 – Teil 4
- Meile 108 – Teil 5
- Meile 108 – Teil 6 – Messumkrater
- Meile 108 – Teil 7 – Mineralienroute
- Meile 108 – Teil 8 – Cape Cross
- Meile 108 – Teil 9
- Meile 108 – Teil 10
Anette Seiler
Anette bereist schon seit ihrer Kindheit das südliche Afrika. Sie liebt es, in der freien Natur zu sein, zu campen, Vögel zu beobachten und offroad zu fahren.
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